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/ 10.Juni 2025

Drei Fragen an Eloïse Bonneviot & Anne de Boer

Zwei Personen spielen im Freien ein Rollenspiel mit Notizbögen und bunten Spielsteinen

Das Künstler*innenduo  Eloïse Bonneviot & Anne de Boer beschäftigt sich mit interspezifischen Beziehungen, Klimaängsten und spekulativen Zukunftsentwürfen. Mit spielerischen Methoden entwickeln sie Werke, die neue Perspektiven auf ökologische Krisen eröffnen. Im Lapidarium Stuttgart laden sie mit Council of Neobiota – Air Extension zum Mitspielen ein. Das tragbare Brettspiel versetzt die Spielenden in die Rolle invasiver Arten, die gemeinsam Strategien gegen Umweltzerstörung entwickeln. Die speziell für Stuttgart ergänzte Air Extension bringt Luftqualität und Umweltbelastung als neue Spielmechaniken ins Spiel – erlebbar mitten im historischen Skulpturengarten. 

CURRENT: Euer Brettspiel Council of Neobiota lädt Spieler*innen dazu ein, invasive Arten zu verkörpern und gemeinsam kapitalistischen ökologischen Zwängen zu widerstehen. In Rollenspielpraktiken beziehen sich Rollenspielmethoden auf unterschiedliche Strategien, mit denen Spieler*innen eine Figur oder Rolle verkörpern – sei es vollständig durchgeskriptet, locker improvisiert oder gemeinsam mit anderen entwickelt. Es gibt ein spezielles Konzept namens „Deep Roleplay“ oder Charakter-Immersion, bei dem die Spieler*innen über das bloße Ausführen von Spielzügen hinausgehen: Sie beginnen emotional, mental oder sogar physisch, die Welt aus der Perspektive ihrer Figur zu erleben (Flow-Zustand). 

Habt ihr aktiv mit bestimmten Rollenspielmethoden gearbeitet oder gezielt versucht, Deep-Roleplay-Zustände zu erzeugen, in denen sich Spieler:innen wirklich in diese nicht-menschlichen Perspektiven hineinversetzen? 

Eloïse Bonneviot & Anne de Boer: Wir gestalten unsere Spiele bewusst so, dass das Publikum paradoxerweise nicht aufgefordert wird, vollständig physisch in die Rolle der nicht-menschlichen Figur zu schlüpfen. Für uns bedeutet das eine inklusivere Herangehensweise, bei der Schüchternheit kein Nachteil ist – um zu vermeiden, dass sich das Publikum durch das Werk gefangen fühlt. Der Moment, in dem ein*e Teilnehmer*in beginnt zu spielen und vergisst, dass sie sich in einer Ausstellung oder einem Kunstevent befinden, ist genau der richtige Geisteszustand, um die Welt aus der Perspektive eines kleinen Lebewesens zu erleben. 

Ein entspanntes Publikum, das sich vollständig auf die Spielwelt einlässt, ohne sich darum zu sorgen, ob es „richtig“ spielt, ist der erste Schritt dazu, sich selbst im Spiel und dessen Welt zu vergessen. Wenn man zum Beispiel beginnt, einen Garten aus der Perspektive eines Steins zu erleben, wird man tatsächlich irgendwann von dieser langsamen Daseinsweise geleitet – Veränderungen haben dann nicht die gleiche Bedeutung wie etwa für die Spieler*in, die eine Eintagsfliege verkörpert. Inmitten dieser Interaktionen – im Ärger über Entscheidungen anderer oder der Freude über das Finden von Artgenossen – entsteht die emotionale Bindung, die eine tiefere Verkörperung und Identifikation mit dem mehr-als-menschlichen Charakter ermöglicht. 

Dabei ist es hilfreich, Spiele im Kontext von Performance zu betrachten. Es gibt ein Live-Element, und das Publikum wird dazu aufgefordert, mit der vom Spiel geschaffenen Situation zu interagieren. Gleichzeitig verschmelzen die Spieler*innen vollständig mit der Spielwelt – und bleiben doch ganz sie selbst. 

CURRENT: Welche Erfahrungen oder Reflexionen möchtet ihr durch die Verwendung von Rollenspielmethoden ermöglichen? 

Ein interessanter Aspekt ergibt sich direkt aus dem vorherigen Punkt über den emotionalen Zustand der Spieler*innen: Spiele können ein starkes spekulatives Werkzeug sein – eine Art Echtzeit-Skizze für Situationen, in denen man sich normalerweise nicht wiederfinden würde. Manchmal ist es schwer, den Ort, an dem man lebt, mit frischem Blick zu sehen. Wir sind so sehr mit und in der Stadt, dass es schwerfällt, über die Probleme hinaus in Richtung von Möglichkeiten zu denken. Mit unserem Spiel möchten wir Menschen helfen, sich einerseits mächtiger zu fühlen, und ihnen andererseits ermöglichen, sich ihre Umwelt auf eine Weise vorzustellen und zu gestalten, die ihnen sonst vielleicht nicht eingefallen wäre. 

Für Council of Neobiota haben wir reale Informationen über Landschaft und Biodiversität einbezogen und die meisten unserer Karten auf Empfehlungen des IPCC (Weltklimarat) zur klimaresilienten Stadtentwicklung gestützt. Diese Lösungen sind sehr inspirierend, aber das Format der Berichte macht es der breiten Öffentlichkeit schwer, sie zu erfassen. In gewisser Weise wurde das Spiel entwickelt, um all diese Daten und Informationen zu Klimawandel, Klimapolitik und Ökologie erlebbar zu machen. Im Spiel kann man all diese Initiativen ausprobieren, Verschmutzung und Zerstörung in einer Stadt bekämpfen und gleichzeitig mit den Superkräften der invasiven Art utopische Projekte entwickeln. Wir hoffen, dass dies Menschen dazu bringt, neue Wege zu erkunden, wie sie ihre Wahrnehmung der Stadt Stuttgart verändern können. 

CURRENT: Für die Air Extension in Stuttgart wollt ihr eine Spieldynamik entwickeln, die Luftqualität und Verschmutzung einbezieht. Was interessiert euch daran, eine so immaterielle, unsichtbare Kraft in ein spielbares, greifbares Format zu übersetzen? 

Eloïse Bonneviot & Anne de Boer: Natürlich ist die Immaterialität von Luft für bildende Künstler*innen sehr reizvoll. Gerade weil sie unsichtbar ist, stellt sie eine spannende Herausforderung dar. Zugleich ist Luft ein heimtückisches Element im ökologischen Kreislauf der Stadt – genau wegen dieser scheinbaren Unsichtbarkeit. Es gab also diese doppelte Herausforderung: sie im Spiel sichtbar zu machen – sowohl visuell als auch spielmechanisch. 

Für das Festival haben wir mit mehreren Expert*innen über die spezifischen Bedingungen in Stuttgart gesprochen: etwa den Fluss, der dezentral liegt, aber industrielle Konzentration mit sich bringt, oder die Windrichtung als Indikator sozialer Ungleichheit. Es wurde schnell deutlich, dass Luft eng mit vielen anderen Problemen der Stadt im Zusammenhang mit Umweltverschmutzung und Klimawandel verknüpft ist. Uns hat interessiert, wie Luft mit allem verbunden ist. 

In der Kunst ist es oft hilfreich, zu schauen, wie etwas funktioniert, um eine visuelle Schwierigkeit zu überwinden. Das haben wir mit unserer Air Extension versucht. Wie kann sich Luft über das bestehende Spielgeschehen legen? Wie bleibt sie immateriell und wird doch sichtbar? Anders gesagt: Wie können wir mit ihren Eigenschaften arbeiten, statt gegen sie? 

Wir haben uns die Windrose als Werkzeug genommen – traditionell in der Kartografie zur Orientierung genutzt. Im Französischen heißt sie „Rose des Vents“ (Rosenkompass), ein passender Name, den wir als Marker für Windrichtung, -stärke und die damit verbundenen Ressourcen (positiv oder negativ) auf der Karte verwendet haben. Starker Wind kann z. B. Wasser oder Samen in neue Gebiete tragen, aber auch Verschmutzung verbreiten und Infrastruktur zerstören – oder beides. So entsteht ein adaptives Spielelement, das tief in das Spielgeschehen eingreift und dennoch weitgehend immateriell bleibt. 

Credits: Eloïse Bonneviot & Anne de Boer, All of the critters, 2024 © Silviu Guiman