#22

3. Sept. 2023

4 Fragen an SONDER

mit Peter Beerbohm & Anton Steenbock

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SONDER Urban Cosmetics, 2023 ©SONDER

SONDER Urban Cosmetics, 2023 ©SONDER

CURRENT: „Unruhe bewahren“ könnte man damit eure künstlerische Praxis im öffentlichen Raum beschreiben?

SONDER: Den Festivaltitel habt ihr gut gewählt, denn der lässt sich natürlich in vielerlei Hinsicht auslegen und prompt hat man das Gefühl, dass er wie die Faust aufs Auge passt. Gleichsam als Aufforderung oder Situationsbeschreibung lesbar, ist es das Gegenteil dessen, was in Gefahrensituationen geraten wird und erinnert an die viel diskutierten Gedanken Donna Haraway's, die nach Verwandtschaften von Menschen, Tieren, Pflanzen, Maschinen und Gesteinen verlangen.
SONDER interessiert sich für aufgeladene Kontexte und Konflikte, die in öffentlichen Räumen und Diskursen ausgetragen werden. SONDER geht es nicht darum, diese Konflikte zu lösen, sondern sie auf den Punkt zu bringen.

In Berlin haben wir 2021 beispielsweise ein Reiterstandbild mit Lagerfeuer eingeweiht, das aus (auf Überlebensgröße hochskalierten) Spielzeugcowboys aus DDR-Produktion besteht. Da Hippiekultur nach westlichem Vorbild in der DDR nicht möglich war, etablierte sich die "Indianistik" als Jugendbewegung in Solidarität mit den Ureinwohnern Nordamerikas. Nunmehr gemeinsam mit Federschmuck am Tipi und Lagerfeuer sitzend, wurden Cowboys zum stilisierten Klassenfeind. 2018 errichtete SONDER in Jena eine Überwachungsstation, die nach der gescheiterten Beobachtung der rechtsradikalen NSU durch den Verfassungsschutz, von einem fahrenden Sandhaufen aus nach den Rechten schaut. Gerade hat SONDER mit Total.Earth an der Akademie der Künste in Berlin ihr Tech-Startup vorgestellt, das eine Sharing-Plattform anbietet, die digitale Unsterblichkeit und die Lösung aller Probleme verspricht.

CURRENT: Als Ausstellungs- und Veranstaltungsort konzentriert sich die zweite Ausgabe von CURRENT auf den Stadtbezirk Stuttgart Bad Cannstatt. Welche Orte sind euch in Bad Cannstatt bei eurem ersten Besuch besonders aufgefallen?

SONDER: Stuttgart Bad Cannstatt ist ein ganz gewöhnlicher Stadtbezirk und "Normalität" ist für uns eine grandiose Ausgangssituation. Je normaler ein Ort ist, desto mehr versteckt sich da und ist im Zweifelsfall unter dem Teppich zu finden. Bad Cannstatt hat da sehr großes Potential. Wir haben schon überlegt, ob wir ein Buch schreiben. "Learning from Bad Cannstatt". Es gibt unzählige Details, die uns bei unseren Wanderungen durch Bad Cannstatt aufgefallen sind. Dazu kommt die Rolle Bad Cannstatts in der Entwicklung der Automobilität, die Verflechtungen von Industrie und Wohnviertel, ...

"SONDER interessiert sich für aufgeladene Kontexte und Konflikte, die in öffentlichen Räumen und Diskursen ausgetragen werden. SONDER geht es nicht darum, diese Konflikte zu lösen, sondern sie auf den Punkt zu bringen."

CURRENT: Ihr arbeitet häufig mit Irritationen im öffentlichen Raum, was steckt dahinter?

SONDER: Wir betrachten "Realität" als Medium unserer Arbeiten. Alles, was uns umgibt oder um uns herum passiert könnte in gleichem Maße "normal" oder "konstruiert" sein. Realität oder insbesondere den öffentlichen Raum verstehen wir als Bühne mit Akteuren und Kulissen, deren Funktion und Handeln sich nach Belieben verändern lässt. Das betrifft natürlich nicht nur den öffentlichen Raum, sondern auch das gesamte politische System. Es gibt nichts, das sich nicht hacken und umdrehen ließe.

We consider "reality" as the medium of our works. Everything that surrounds us or happens around us could be considered in equal degrees "normal" or "constructed". We understand reality – or public space in particular – as a stage with actors and scenery, whose function and acts can be changed at will. This applies not only to public space, but also to the entire political system. There is nothing that cannot be hacked and spun around.
Normalität ist der erwartete Zustand, während das Unerwartete Irritationen hervorruft, die im besten Fall dazu führen, die Normalität in Frage zu stellen und eben als das zu begreifen, was sie ist: Als einen konstruierten Zustand, der fälschlicherweise als unveränderlich angesehen wird.

CURRENT: Könnt ihr schon verraten, wonach wir während des Festivals Ausschau halten sollten?

SONDER: Im Großen und Ganzen werden wir uns darum kümmern, in Bad Cannstatt gezielt für Sauberkeit und Ordnung zu sorgen. Sollten die Bürger der Stadt im September von unbekannter Aufgeräumtheit überrascht werden, muss dies kein Grund zur Sorge sein.

#21

20. Aug. 2023

4 Fragen an Kestutis Svirnelis

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CURRENT: Viele deiner Objekte nehmen eine überdimensionale Größe ein, manche füllen einen Raum komplett aus – Spielen das Übermächtige und das “Unruhe bewahren” eine Rolle in deiner künstlerischen Arbeit?

Kestutis Svirnelis: Ja und Nein. Je nachdem, was es für eine Arbeit ist und je nach dem, in welchem Raumdie Arbeit steht. Ich arbeite sozusagen mit Maßstäben, mit Verhältnissen. Ich bin als Mensch Ausgangspunkt für andere Menschen. 

D.h. Wenn ich ein kleines Objekt konzipiere, dann liegt dahinter vielleicht die Idee, bestimmte künstlerische Aussagen als etwas “Kleines” zu betonen. Oder andersrum, wenn ich sehr große Objekte konzipiere,dann um die “Kleinheit” des Menschen zu betonen. Es geht also immer um Relationen und Verhältnisse. Die Größe eines Objektes und die eigene Größe im Verhältnis wird vom Menschen auch ganz unterschiedlich wahrgenommen, je nach dem in welchem Raum das Objekt steht. Es ist also immer auch eine Frage der eigenen Wahrnehmung. 

CURRENT: Du entziehst dich einer bewussten Beschreibung/Interpretation deiner Kunstobjekte, hat das einen Grund?

Kestutis Svirnelis: Ja, jeder Gedanke, jede Tat hat einen Grund. Ich bezeichne mich als visuellen Künstler. Ich erzähle etwas mit meinem dreidimensionalen Bild oder mit meiner Skulptur. Als Konzeptkünstler kann oder muss man Kontexte stellen – wenn ich das als visueller Künstler machen muss, dann wird meine Arbeit schwach.

Es gibt einen Spruch, der sagt “Es gibt’s nichts Langweiligeres als eine zu Ende erzählte Geschichte.”

Außerdem bewegen sich im öffentlichen Raum viele verschiedene Menschen, mit verschiedenen Hintergründen und Lebenswelten. Alle reagieren unterschiedlich auf Kunst im öffentlichen Raum. Wenn man ihnen eine Interpretation vorgibt, dann gibt man direkt etwas Didaktisches oder eine Art Lehre mit hinein. Ich möchte den Menschen die Möglichkeit geben, eigene Erfahrungen mit der Kunst zu machen und es offen halten für eigene Interpretation.

"Ob man nun näher hintreten oder schnell weitergehen soll – man wird immer zu einer Art von Bewegung angeregt. Da ist also immer eine Interaktion zwischen zwei lebendigen Dingen. Das nenne ich manchmal Bewegungspsychologie."

CURRENT: Aus der Ferne betrachtet erscheinen manche deiner Objekte zunächst bewegungslos, beim näheren Heranschreiten wortwörtlich lebendig. Wie interagieren deine Objekte mit dem öffentlichen Raum und den Personen, die sich in ihm bewegen? 

Kestutis Svirnelis: Der öffentliche Raum ist für mich der Raum für die Skulptur und ein Ort, an dem Menschen sind. Als Bildhauer spielt der architektonische Raum eine große Rolle, denn man braucht wie der Maler einen Rahmen – der Raum rahmt also die Skulptur oder das Objekt. In einem Raum platzierst du ein Objekt, wie eine Zeichnung auf Papier. Die Wände, die Architektur sind die Ränder des Blattes. 

Meine Objekte interagieren also nicht mit dem Ort, sie nutzen ihn – aber die Interaktion mit den Zuschauer:innen ist da!

Manche meiner Kinetischen Objekte sind aktiv und lebendig, fast schon “aggressiv”. Sie leben, sie atmen und provozieren eine Reaktion oder Aktion, egal ob bei vorbeilaufenden oder zuschauenden Personen. Ob man nun näher hintreten oder schnell weitergehen soll – man wird immer zu einer Art von Bewegung angeregt. Du wirst hineingezogen, bist Teil davon. Da ist also immer eine Interaktion zwischen zwei lebendigen Dingen. Das nenne ich manchmal Bewegungspsychologie.

Durch Bewegung entfalten sich die Objekte erst und man kann bestimmte Emotionen in den Menschen wecken! Ganz unterschiedliche Emotionen werden in den Personen hervorgerufen. Gefühlscocktails aus Begeisterung, Hass, Überraschung oder die häufigste Emotion bei meinen Arbeiten: Ekel! 

CURRENT: Nach welchen Kriterien suchst du einen Ort für deine Objekte aus und wie entwickelst du deine Arbeit?

Kestutis Svirnelis: Ich suche mir den Raum nicht selbst aus, ich konzipiere für den Raum, der mir angeboten wird, wie jetzt bei CURRENT. 

Zuerst gehe ich vor Ort, denke dort eine Skizze 3D im Kopf und schaue, wie es in die Umgebung passt oder was sich hervorheben lässt, wie es wirken kann vor Ort. Es ist also wichtig vor Ort zu sein und zu sehen was sinnvoll ist für die Skulptur und was nicht. Für CURRENT konzipiere ich jetzt an einem sehr großen, offenen & öffentlichen Ort, das ist sehr aufregend, das bekomme ich Gänsehaut.

#20

13. Aug. 2023

4 Fragen an allapopp

Übersetzt von Karoline Walter

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CURRENT: In deiner Arbeit kreierst du tech-positive Visionen der Zukunft. In vielen Teilen der Gesellschaft herrscht eine gewisse “Angst” vor den schnellen, technischen Erneuerungen im digitalen oder virtuellen Raum - wäre„Unruhe bewahren“ die richtige Einstellung?

allapopp: Ich glaube, dass die Zukunft auf eine Weise technisch sein kann, die Menschen in intersektionaler Hinsicht zugute kommt, die aber vorallem das Zusammenleben mit der Natur fördert, ohne sie zu beherrschen. Menschengemachte Technik sollte darauf abzielen, die Schäden zu beheben, die allen Lebensformen, einschließlich dem Menschen selbst, bereits zugefügt wurden. Daher sollte man bei der Entwicklung neuer Technologien immer im Auge behalten, welche Vorteile die entsprechende Technik mit sich bringt und wessen Bedürfnisse sie befriedigen kann. Es sollte stets kritisch hinterfragt werden, ob eine bestimmte Technologie überhaupt eingeführt werden sollte – so wie es die Autoren von AI Manyfesto vorschlagen.

Ich stelle mir die Zukunft in technischer Hinsicht so vor, dass eine offene und partizipative Entwicklung von Technologien möglich und eine kritische Auseinandersetzung mit bestehenden Systemen gefördert wird. Das ist ganz entscheidend, denn derlei Systeme haben erhebliche Auswirkungen auf gesellschaftliche Randgruppen und unsere Umwelt.

Zur Technik gehören bestimmte Narrative, die in der westlichen und sowjetischen Science-Fiction wurzeln, die wiederum zum Großteil während des Wettrüstens der ‚Big Boys‘ im Kalten Krieg verfasst worden ist. Diese Narrative spiegeln oftmals dystopische Vorstellungen und Ängste der damaligen Zeit wider. Sie prägen bis heute unser Bild von Technik, wie es beispielsweise in Mainstream-Kinofilmen vermittelt wird.

Ironischerweise entfalten heutige Technologien ihre Wirkung viel beiläufiger und subtiler; sie dringen in unsere Köpfe ein und beeinflussen unser Verhalten, unsere Selbstwahrnehmung und unsere Entscheidungsfindung. Die allseits gefürchteten dystopischen Zukunftsszenarien entfalten sich in Echtzeit. Das ist schwer zufassen, aber eine kritische Auseinandersetzung damit lässt sich nicht mehr vermeiden.

„Unruhe bewahren“ ist daher eine Botschaft an all diejenigen, die in ihrer Nutzung von Technik zu bequem geworden sind und nicht realisieren, zu welchem Preis diese Systeme laufen.

"Ich stelle mir die Zukunft in technischer Hinsicht so vor, dass eine offene und partizipative Entwicklung von Technologien möglich und eine kritische Auseinandersetzung mit bestehenden Systemen gefördert wird. Das ist ganz entscheidend, denn derlei Systeme haben erhebliche Auswirkungen auf gesellschaftliche Randgruppen und unsere Umwelt."

CURRENT: Mit welchen Medien arbeitest du? 

allapopp: Ich bezeichne mich selbst als interdisziplinäre:n Künstler:in im Bereich Digitale Medien und Performance. Die Projekte, an denen ich arbeite, beinhalten Elemente digitaler Technologien wie etwa KI-Tools, Erfahrungen mit Virtual Reality, Augmented Reality, Extended Reality, dem Netz und Interaktivität, sowie elektronisch produzierten Sound. Zugleich setzen sich meine Projekte unmittelbar mit dem technologischen Status quo auseinander und damit, wie Menschen sich zu ihm verhalten; betrachtet durch das Werkzeug meines Körpers, der sich diese Technologien einverleibt.

Meine Performances können in verschiedenen Formaten stattfinden – etwa als szenische Live-Show oder interaktive Computerspielerfahrung, entweder gleichzeitig oder separat. Diese Performances können haptische Objekte und Materialien zum Gegenstand haben, die mit ihren digitalen Entsprechungen verbunden sind und umgekehrt. Und sie beinhalten natürlich meine eigenen, mit Musik präsentierten Texte und Lyrics.

Es fällt mir schwer, meine Arbeit auf bestimmte Medien zu beschränken, weil ich glaube, dass eine solche Kategorisierung der Zeit, in der wir leben, nicht gerecht wird. Zwar habe ich es noch nicht ausprobiert und habe diesbezüglich keine großen handwerklichen Fähigkeiten, aber ich würde mich nicht scheuen, auch konventionelle Medien wie Ölmalerei in meine Projekte miteinzubeziehen, wenn sie dem Narrativ dienen, das ich vermitteln möchte.

CURRENT: Für das Festival CURRENT konzipierst du die App HYPERLOVE. Was steckt hinter der Idee zu HYPERLOVE?

allapopp: HYPERLOVE erforscht das „phygital“ Erhabene des Sollen und Sein im Extrem-Selbstbezug, und zwar auf der Ebene des Alltagslebens. Es visualisiert die digitalen Schichten menschlicher Existenz, die menschlicheGefühle, Handlungen und Entscheidungen beeinflussen. HYPERLOVE umfasst eine persönliche Reise und ist als audiovisuelle Performance in den Metaräumen von Bad Cannstatt konzipiert.

Die HYPERLOVE- Erfahrung kann mittels der eigens für das Festival entwickelten, gleichnamigen Augmented Reality App gemacht werden.

Sie liegt mir sehr am Herzen, denn es ist meine erste Smartphone-App und zugleich die erste Performance-App ihrer Art – ein Projekt, dessen Realisierung ich schon lange entgegen fiebere. Daher freue ich mich auf den Release im Rahmen des Festivals.

CURRENT: Mit neu entwickelten Medien wie Augmented Reality wird der öffentliche Raum um den virtuellen Raum ins Unendliche erweitert. Liegt die Zukunft der Städte im Virtuellen? Welche Möglichkeitsräume eröffnen sich dadurch für unsere Gesellschaft (und für unterrepräsentierte Perspektiven)?

allapopp: Ich glaube, dass die Zukunft der Städte und der menschlichen Existenz im Allgemeinen im „Phygitalen“ liegt – einer Erweiterung und Überlagerung digitaler und physischer Räume ineinander. Augmented Reality ist ein gutes Beispiel dafür, wie „real“ und „meta“ in unserem Leben bereits koexistieren. Zwar kann die AR-Technologie allein das Problem fehlender Partizipation bei der Entwicklung und Umsetzung neuer Technologien nicht lösen – und sie kann auch nicht den Auswirkungen entgegen treten, die diese Technologien auf gesellschaftliche Randgruppen und marginalisierte Körper haben. Aber sie kann eine neue Perspektive aufzeigen und die Öffentlichkeit dazuanregen, sich kritisch mit Technologien auseinander zusetzen, die bereits Bestandteil unseres Lebens geworden sind.

#19

6. Aug. 2023

4 Fragen an Lucia Graf

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CURRENT: Inwiefern bewahrt deine künstlerische Arbeit Unruhe?

Lucia Graf: Ich beschäftige mich mit Formen des Literarischen und Grafischen in der Bildenden Kunst und seit 2017 insbesondere mit Orakeln.

Orakel sind Sprechstätten, Medien, die Informationen enthalten, speichern und weitergeben. Ein Orakel aufzusuchen, setzt Unsicherheiten voraus, Fragen, die zum Reisen, Hören und Sprechen auffordern. Doch Orakel sprechen nichts aus, offenbaren nichts, sie bleiben immer vage. Sie geben keine Gewissheit, sondern Andeutungen und Zeichen, konfrontieren die Unsicherheit mit Mehrdeutigkeit und tragen so zur Reflexion bei. Die Auslegung der Andeutungen läuft immer auf den Mut heraus, die eigene Urteilskraft zur Grundlage der Interpretation zu erheben, maximal aufmerksam sich selbst und die Welt zu beobachten.

Orakel sind Orte, die das Selbst ver(un)sichern. Orakel bewahren (Un)Ruhe. Oracles are (Un) Safe Spaces.

Diese Fragilität der Orakel und ihrer Techniken inspirieren meine künstlerische Arbeit dahingehend mit Zeichen zu spielen, Missverständnisse zu schaffen, zu verführen.

"Orakel sind Orte, die das Selbst ver(un)sichern. Orakel bewahren (Un)Ruhe. Oracles are (Un)Safe Spaces."

CURRENT: Für deine Installation während des Festivals CURRENT hast du dir Brunnen in Bad Cannstatt ausgewählt. Welcher hat es dir besonders angetan und warum? 

Lucia Graf: Mich erinnert der Veielbrunnen mit den von links und rechts zu ihm hinabführenden Treppenstufen an antike griechische Amphitheater. Ihre Grundform macht es möglich, dass selbst das Fallen einer Münze auf der Bühne bis zur letzten oberen Reihe hörbar ist. Außerdem erinnert mich der Brunnen an das Orakel von Delphi. Es scheint als würden der steinerne Krebs und die Schildkröte den Brunnen Tag und Nacht bewachen.

Doch schon bevor ich den Veielbrunnen zum ersten Mal während meiner Recherche in Bad Cannstatt sah, las ich, dass er zu Volksfestzeiten stark frequentiert wird, auch von Teenagern, und zum Müllplatz wird. Das interpretiere ich als gutes Zeichen dafür, dass sich dort gut Zeit verbringen lässt.

#18

31. Juli 2023

4 Fragen an COMODODO

mit TinTin Patrone & Toben Piel sowie Martina Wegener & Frédéric Ehlers

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COMODODO, Eröffnung der Filiale Hamburg, 2022 ©Tim Daniel Huys

COMODODO, Eröffnung der Filiale Hamburg, 2022 ©Tim Daniel Huys

CURRENT: Was war die zündende Idee für das Start-up COMODODO?

COMODODO: Unsere Ausgangsfrage war: Wie lässt sich in Zeiten von Warenüberfluss und Ressourcenknappheit ein nachhaltiges Konzept für einen Warenlieferdienst entwickeln?Die Antwort kam schnell: Indem wir die ressourcen- und kostenintensiven materiellen Güter aussparen und einzig durch Einsatz der Ware Arbeitskraft, auf Basis von Kreativität und Aufopferungsbereitschaft unseres Teams ein immaterielles Produktangebot erstellen.

CURRENT: Für das Festival CURRENT eröffnet eine Franchise-Filiale von COMODODO in Cannstatt. Was macht den Standort Cannstatt so attraktiv für euch? 

COMODODO: Cannstatt erscheint als idealer Ort für unsere erste Filiale außerhalb Hamburgs.Die Menschen sind offen für Neues! Eine Belebung des Areals Wilhelmsplatz steht auf dem Plan, wobei wir mit unserem Angebot sicher einen Teil dazu beitragen können.

Schlussendlich ist Stuttgart als Einzugsgebiet mit seiner kreativen Szene auch sicherlich ein guter Zulieferer für die Ressource Arbeitskraft.

"COMODODO bedeutet Lebensfreude, Lust am Entdecken immaterieller Innovationen und Genuss. D.h. wir Arbeiten eigentlich zu 100% dem Motto eures Festivals entgegen."

COMODODO, Eröffnung der Filiale Hamburg, 2022 ©Tim Daniel Huys.jpg

COMODODO, Eröffnung der Filiale Hamburg, 2022 ©Tim Daniel Huys.jpg

CURRENT: Könnte „Unruhe bewahren!” zu einem Motivationsslogan für die COMODODO-Mitarbeiter:innen werden? 

COMODODO: Wir möchten, dass Menschen, Arbeitnehmer:innen, wie auch Kund:innen sich wohl fühlen. Bei uns, mit unserer Dienstleistung und unseren Produkten. COMODODO bedeutet Lebensfreude, Lust am Entdecken immaterieller Innovationen und Genuss. D.h. wir Arbeiten eigentlich zu 100% dem Motto eures Festivals entgegen.

CURRENT: Wir befinden uns in einer Zeit des rasanten Wandels; wie geht es nach CURRENT weiter – expandiert COMODODO mit weitere Franchise-Filialen? 

COMODODO: Absolut! Das ist die Idee und liegt ja auch in der Logik eines solchen Unternehmens wie dem unseren. Interessierte Franchisenehmer:innen können sich gern für ein persönliches Beratungsgespräch im Rahmen des Festivals an uns wenden.

28. Juli 2023

Die künstlerischen Positionen sind bekannt!

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Artistic position CURRENT 2023

Künstlerische Positionen CURRENT 2023

Hinter den Kulissen ist viel passiert und wir können Euch nun endlich die diesjährigen künstlerischen Positionen des transdisziplinären Festivals CURRENT – KUNST UND URBANER RAUM vorstellen! 

Das Festival präsentiert fünf herausragende künstlerische Positionen und über 20 Kooperationspartner:innen aus Stuttgart und Umgebung. Die kuratorische Auswahl umfasst Arbeiten von 

allapopp, COMODODO (TinTin Patrone & Toben Piel mit Martina Wegener & Frédéric Ehlers),Kestutis Svirnelis, Lucia Graf und SONDER (Peter Beerbohm & Anton Steenbock).

Die ortsspezifischen und für das Festival konzipierten Arbeiten befassen sich mit aktuellen Themen im urbanen Raum: Wandel der Innenstätte, Arbeitsbedingungen, queer-feministische Perspektiven, Täuschungen und Störungen sowie dem Übermächtigen. CURRENT öffnet den traditionellen Begriff von Kunst im öffentlichen Raum und lädt Besucher:innen in Cannstatt dazu ein, Sound- und Augmented-Reality-Installationen, kinetische Objekte, Interventionen und einen ungewöhnlichen Lieferdienst zu entdecken.

Wir freuen uns auf eine spannende Festivalzeit!

#17

30. Juni 2023

... eine letzte Frage an Laura Bernhardt

4 Fragen an die Künstlerische Leitung von CURRENT — KUNST UND URBANER RAUM

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©Matter Of

©Matter Of

Als aktiver Beitrag zu den Diskussionen um eine Neuausrichtung der Programme Kunst am Bau und Kunst im öffentlichen Raum wurde das Festival CURRENT – KUNST UND URBANER RAUM von Laura Bernhardt 2020 gegründet.

Wir vom Festivalteam haben Laura vier Fragen zur zweiten Ausgabe des Festivals mit dem Titel Unruhe bewahren! gestellt, das dieses Jahr vom 14. – 24. September stattfindet.

Team: Wieso Unruhe bewahren! ?

Laura: Der Ausruf Unruhe bewahren! scheint widersprüchlich. Ist er aber nicht. Bewahren betont den positiven Aspekt der Unruhe. Die Unruhe verstehen wir in diesem Zusammenhang als ein Signal, das unsere Aufmerksamkeit fordert und dabei hilft eine neue Sicht auf die Dinge herzustellen. Gewohnheiten und Routinen werden in Frage gestellt. Es geht also um unsere Wahrnehmung, Sensibilisierung und letztlich auch um einen Resonanzraum für die Auseinandersetzung mit unserem Status Quo. Deshalb ist Unruhe bewahren! weder „Ruhe bewahren“ noch „Unruhe stiften“. Um Krisen zu überwinden, müssen wir uns konstruktiv auf die Zukunft einlassen, um nicht überwältigt zu werden und in Resignation zu verfallen und andererseits nicht nur überstürzt zu reagieren oder gar in Panik zu geraten. Unruhe bewahren! wird so zu einem Gestaltungsraum. Wenn wir dies auf den städtischen Raum übertragen und in Verbindung mit Stadtentwicklung und Planung diskutieren, dann ist für mich die Kunst in diesen Prozessen diejenige, die Unruhe bewahrt!

#16

27. Juni 2023

Das Noch-nicht: Kunst, Imagination, Engagement

Ein Gespräch zwischen Jeanne van Heeswijk und Maria Hlavajova aus dem CURRENT Magazin #1

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Brick by Brick and Loaf by Loaf We Build Ourselves, installation, by Homebaked Community Land Trust (CLT), Homebaked Co-operative Bakery, and Homegrown Collective in collaboration with Britt Jürgensen, URBED, and Jeanne van Heeswijk, at Trainings for the Not-Yet, BAK basis voor actuele kunst, Utrecht. Photo: Tom Janssen

Brick by Brick and Loaf by Loaf We Build Ourselves, Installation, von Homebaked Community Land Trust (CLT), Homebaked Co-operative Bakery, und Homegrown Collective in Kollaboration mit Britt Jürgensen, URBED und Jeanne van Heeswijk, bei Trainings for the Not-Yet, BAK basis voor actuele kunst, Utrecht. © Foto: Tom Janssen

Ein Gespräch zwischen Jeanne van Heeswijk und Maria Hlavajova

Übersetzt von Karoline Walter

Maria Hlavajova: In den letzten Jahren haben wir (wenn auch mit unterschiedlicher Intensität und Geschwindigkeit) ein anhaltendes Gespräch über die Bedeutung des Noch-nicht geführt. Es fühlt sich wie ein fortlaufender Prozess gemeinsamen Denkens an, das eine Reihe von Projekten begründet hat, die periodisch daraus hervorgingen und im öffentlichen Raum auftauchten: Angefangen mit Deinem Stipendium am BAK, basis voor actuele kunst, Utrecht in den Jahren 2018 und 2019; gefolgt von einer kolossalen Ausstellung als eine Reihe von Übungen für eine Zukunft des Zusammenseins in anderer Form mit dem Titel Trainings for the Not-Yet (Übungen für das Noch-nicht), die von Dir und dem BAK mit einer Vielzahl von Mitarbeiter:innen in den Jahren 2019 und Anfang 2020 realisiert wurde; dann Deine Arbeit von Sommer 2020 bis heute mit den BAK Fellows und Accomplices aus der unmittelbaren Nachbarschaft; die Publikation Toward the Not-Yet: Art as Public Practice (2021), die wir gerade fertiggestellt und zusammen mit Rachael Rakes herausgegeben haben, sowie eine laufende Umgestaltung des BAK von einer Kunstinstitution hin zu dem, was wir jetzt community portal (Gemeinschaftsportal) nennen. Ich würde gerne die Gelegenheit ergreifen, um kleine Ausschnitte dieses fortlaufenden Austauschs wiederaufzugreifen und mit den Leser:innen einige Gedanken zum Noch-nicht zu teilen – bzw. der Möglichkeiten, die es gegenüber dem vorherrschenden Zukunftsszenario derjenigen bietet, die sich der neoliberalen, nekropolitischen Zerstörungsmaschine verschrieben haben.

Jeanne van Heeswijk: In den beinahe dreißig Jahren meiner künstlerischen Praxis bin ich zu dem Schluss gekommen, dass das Noch-nicht ein grundlegender Baustein kollektiven Werdens ist, das ich angesichts des derzeitigen Zustands der Welt als wichtige Überlebensstrategie erachte. Ich begann zu verstehen, wie das Vorbereiten auf, oder, wie ich es nenne, das Training für das Noch-nicht eine verinnerlichte Praxis werden könnte, die für das Leben eines lebbaren Lebens entscheidend sein könnte. Es ist beinahe unmöglich genau herauszufinden, was der neoliberale Kapitalismus alles zerstört hat, aber es mangelt uns definitiv an Vermögen, jenseits der Logik dessen zu denken, was im Kapitalismus als wertvoll erachtet wird. Hiermit zusammenhängend erachte ich das Noch-nicht als eine Art schwebenden Raum, in dem Menschen anders denken, Fantasie zurückgewinnen und mögliche Szenarien dessen ausprobieren können, was da noch kommen mag.

MH: Ich frage mich, wie dieser schwebende Raum, wie du ihn nennst, in Bezug auf den Begriff der „Porosität“ verstanden werden könnte, den diese Thematik ja berührt. Obwohl Porosität nicht direkt Teil unseres Denkens und unserer Praxis um das, mit dem und im Noch-nicht war, finde ich, dass es sich dabei um ein interessantes, bedenkenswertes Konzept handelt, und sei es auch bloß indirekt. Ich finde, bei der Art und Weise, wie Du aus dem Noch-nicht ein Konzept und eine Praxis gemacht hast – nicht nur hinsichtlich dessen visionärer Dimension, sondern auch in Hinblick auf seine politisch-praktische – geht es darum, die „Risse“ in der neoliberalen Infrastruktur zu erkennen und (neu) zu füllen, um das Andere zu denken und zu imaginieren, und diese neuen Vorstellungen dann in die Tat umzusetzen.

JvH: Das ist in der Tat die Politik des Noch-nicht. Ich stelle sie mir so vor, dass wir in diese von Krisen geprägte Welt Risse reißen – in diese Risse oder Lücken hinein kann die Ordnung der Dinge entsprechend den Idealen einer gerechten Gesellschaft neu gestaltet werden, und sei es auch nur zeitweilig. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, finde ich den Begriff der Porosität einen interessanten Ansatz, sofern wir eine solche Praxis so verstehen, dass sie in bestimmten Formen der Relationalität, des Voneinander ­Lernens sowie der Schaffung von Dialog- und Imaginationsräumen besteht. In diesen Zwischenräumen muss das Noch-nicht beständig angepasst werden; es ist wichtig, dass Menschen frei dazu stoßen, aber auch aussteigen können, wenn es die Umstände erfordern. Das ist auch ein Aspekt von Porosität – die Möglichkeit, Teil einer kollektiven Reise im Raum- Zeit-Kontinuum zu werden, das ins Jetzt eingefügt ist, mit der Option, es wieder zu verlassen, wann immer und falls nötig.

MH: Das, was da noch kommen mag – das Noch-nicht – bedeutet nicht einfach „die Zukunft“. Auch ist es kein falsches utopisches Versprechen eines „Anderswo“ oder „Wann anders“, das darin besteht, dass eines Tages „neue“ Menschen auf wundersame Weise eine „Insel“ jenseits der echten Welt, echter Konflikte, echter Probleme und einer echten Geschichte errichten.

JvH: Ich mag es nicht, von der Zukunft zu sprechen – es ist schwer von der westlichen linearen Vorstellung von Zeit und der neoliberalen Idee des Fortschritts zu trennen, die so oft herangezogen wird, um zu beschreiben, was als Nächstes kommt. Wir werden dazu verleitet zu glauben, dass es irgendwo jenseits des Horizonts etwas Besseres gibt. Aber ich frage mich immer wieder: Was, wenn wir nicht irgendwohin kommen, wo es besser ist? Was, wenn wir gestrandet sind? Und falls das der Fall ist, gibt es etwas, das wir am Abgrund tun können? Ich habe mich immer gefragt, ob wir uns auf etwas vorbereiten – ja, für etwas trainieren könnten, das wir nicht genau vorhersagen können, das wir uns aber als eine sozial, kulturell und ökologisch gerechte Welt vorstellen können. Vor allem vor dem Hintergrund immer eindrücklicher werdender düsterer Realitäten – denken wir an den Klimawandel, immense Wohlstandsgefälle, Schuldenfallen, die Aushöhlung von Arbeitnehmer:innenrechten, Gentrifizierungsprozesse, weitere Pandemien, rassistische Ungerechtigkeiten...die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Um inmitten dieser sich überlagernden Katastrophen zu überleben und idealerweise zu gedeihen, müssen wir lernen, miteinander auszukommen, und zwar im Hier und Jetzt. Ich bin äußerst angetan von dem Vorschlag, den die visionäre Schriftstellerin Walidah Imarisha in unserem Buch formuliert: Wir müssen vielleicht darüber nachdenken, wie wir vom Training für das Noch-Nicht zum Leben des Noch-Nicht übergehen können. Es geht darum, das Noch-Nicht für die und in der Gegenwart zu erschaffen.

"Ich stelle sie mir so vor, dass wir in diese von Krisen geprägte Welt Risse reißen – in diese Risse oder Lücken hinein kann die Ordnung der Dinge entsprechend den Idealen einer gerechten Gesellschaft neu gestaltet werden, und sei es auch nur zeitweilig."

Banner by We Are Here collective, installed at Trainings for the Not-Yet: Decommodifying Housing, BAK basis voor actuele kunst, Utrecht. © Photo: Tom Janssen

Banner von We Are Here collective, aufgestellt bei Trainings for the Not-Yet: Decommodifying Housing, BAK basis voor actuele kunst, Utrecht. © Photo: Tom Janssen

MH: Ich denke, das ist es, was wir als „Imagination als Praxis“ diskutiert haben: sich vorzustellen, auf andere Weise zusammen zu kommen, und dann diese alternative Vorstellung zu leben – so als ob das möglich wäre. Meines Erachtens ist ein solcher „Als-obismus“ äußerst wichtig dafür, Wege zu finden, ein lebenswertes Leben in Gemeinschaft zu führen – nicht einfach nur entgegen der aktuellen Notlage, sondern ihr zum Trotz. Das bringt mich zur Frage nach dem Engagement. Du zitierst dazu oft die Philosophin Marina Garcés.

JvH: Mich interessiert Garcés‘ Denken, besonders bezüglich der Frage, was uns dazu bringt, uns füreinander einzusetzen und „bezüglich der Ausprägung unserer verschiedenen Arten von Engagement füreinander und der Wirklichkeiten, die wir teilen.“1 Es gibt hierauf keine einfachen Antworten und Garcés macht deutlich, dass es uns an der Fähigkeit mangelt, uns jenseits „der grundlegendsten Gefühle, die wir für unsere Liebsten hegen (Familie, Freunde usw.) füreinander einzusetzen.“2 Wir leben also in einer politischen Sackgasse, die sich aus der Unfähigkeit ergibt, Öffentlichkeit zu schaffen und zu erhalten, während das Gemeinschaftsleben „insular wird oder sich auflöst.“ In unserer Gegenwart ist Gemeinschaft dann eine „enttäuschende Erfahrung“ und Engagement für sie ist „eine gescheiterte Forderung.“3

MH: Könntest Du ein konkretes Beispiel geben?

JvH: In meiner Arbeit suche ich intensiv nach Wegen, mich trotz dieser Unmöglichkeit zu engagieren, nicht nur diskursiv, sondern praktisch; durch den Aufbau eines „praktischen Stipendiums“ vor Ort und mit anderen. Das heißt, ich lerne aus dem Alltag und dem Leben von und mit den Menschen um mich herum. Sei es nun, dass man tagelang eine öffentliche Fakultät beherbergt, ein Bewusstsein für das Lokale erzeugt, faire alternative Wirtschaftsmodelle wie Nachbarschaftsgenoss:innenschaften mitgestaltet oder eine Treuhandgesellschaft für bezahlbaren Wohnraum gründet. Ich war Zeugin und Teil von Prozessen, die auf Zusammengehörigkeit hinwirken, darauf, kollektiv zu werden. Es gibt eine Reihe von wiederkehrenden Themen, die meine künstlerische Praxis durchziehen, darunter bezahlbarer Wohnraum, Lebensqualität und das Recht auf Stadt. Du erinnerst Dich vielleicht an ein Training im Zuge von Trainings for the Not-Yet am BAK, das Decommodifying Housing: How to Get There (Wohnen entkommerzialisieren: Der Weg dorthin) hieß, mit dem Homebaked Community Land Trust und vielen anderen. Verschiedene Leute und Kollektive, die sich für bezahlbares Wohnen in Amsterdam, Barcelona, Liverpool, Rotterdam und Utrecht einsetzen, sind zusammengekommen, um über Wohngerechtigkeit, Syndikate, Wohnkooperativen und andere Formen gerechten Wohnens zu sprechen. Als Teil dieses Trainings und der Ausstellung mit lernenden Objekten habe ich We Are Here eingeladen, eine Gruppe von Menschen ohne Papiere in Amsterdam, die keine andere Wahl haben als von einem temporär besetzten Haus ins nächste zu ziehen. Für sie gibt es in Bezug aufs Wohnen keine unmittelbare Lösung, außer sie erhalten in den Niederlanden Asyl. Irgendwann während des Trainings kam das Thema „Gästezimmer“ auf, die viele Kollektive organisieren, um Menschen aus ihren erweiterten Netzwerken auf Reisen zu beherbergen und die Frage, wie diese Praxis den Anforderungen an ein ethisches, ökologisches Reisen usw. gerecht wird. Könnten diese Gästezimmer „politische Gästezimmer“ werden, bis hin dazu, dass sie undokumentierte, nicht abschiebbare Geflüchtete im Limbo nach Vorbild des We Are Here-Kollektivs beherbergen könnten? Das war, wie Du Dir vorstellen kannst, ein starker, konfrontativer Gesprächsmoment, da dies bedeuten würde, sich ganz anderen Realitäten zu stellen als wenn man Reisende beherbergt, die mehr oder weniger die Lebensbedingungen ihrer Gastgeber:innen teilen. Und wenn dies vorstellbar wäre, würde die Unterkunft dann nur so lange zur Verfügung stehen, wie die Geflüchteten keine Papiere haben? Wäre sie nur einevorübergehende Zuflucht für Notfälle? Wie lange würden sie bleiben? Würden sie jemals wieder gehen? Wie kann man so einen Raum schaffen, der die Grenzen der eigenen Privilegien erweitert? Einen, der sich für Interdependenz und echte Gemeinschaft über Unterschiede hinweg einsetzt? Du siehst, es gibt keine unmittelbare Lösung für diese Fragen, aber das Gespräch war wichtig, um ein Bewusstsein für das Problem zu schaffen und daraus eine machtvolle Imagination zu entwickeln. Beim Noch-nicht geht es genau darum, Raum für das Unlösbare zu schaffen, das noch Unbekannte und Unbenannte, noch nicht Sichtbare, noch nicht Vorgestellte, noch nicht Mögliche, das aber dennoch bedacht, organisiert und praktiziert (!) werden will.

MH: Ein politisches Gästezimmer! Eine starke Art, die Infrastruktur der Welt neu zu denken, einschließlich dem Bereich der Kunst. Wir haben hierüber gemeinsam nachgedacht, uns gefragt, ob eine Kunstinstitution eine Art ‚Gemeinschaftsportal‘ werden kann: ein Ort, um für das Noch-nicht zu trainieren und dieses zu leben. Ich sehe einen faszinierenden Prozess vor uns, wenn auch einen schwierigen, angesichts einer kollabierenden Welt...

JvH: Trotz der Schwierigkeit bin ich davon überzeugt, dass wir es, wenn wir füreinander einstehen und es uns gemeinsam vorstellen, auch gemeinsam schaffen können.

1. Marina Garcés, 64. El compromis/Commitment, Beus no.64, Centre de Cultura Contemporánea de Barcelona, S. 26.

2. Ebda.

3. Ebda.

#15

27. Juni 2023

Improvisation oder Nichts. Von Zustand und Zukunft des Städtischen

Ein Beitrag aus dem CURRENT Magazin #1 von Christopher Dell

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Städteplanung hat solch verheerende Folgen auf dem Planeten gezeitigt, dass zur Disposition steht, ob Leben auf der Erde noch lange möglich ist. Das Untersuchen dieser Tatsache hat nach und nach dazu geführt, dass man bemerkte, dass das Wirkliche der Stadt nicht nur von Menschen, sondern auch von Tieren und Dingen bestimmt wird, also von dem, was man im Fachjargon neuerer Wissenschaften nicht-menschliche Akteure nennt.

Das Weiterleben auf der verstädterten Erde kann nicht ohne ein Zusammenspiel aller Akteur:innen – menschlicher und nicht- menschlicher gelingen.

Daran schließt weiterhin an, dass die Verstädterung der Moderne ihren Ursprung im Kolonialismus nicht mehr leugnen kann. Zur Debatte steht, wie diejenigen der menschlichen Spezies, denen es geschichtlich versagt wurde, als Menschen anerkannt werden, zu ihrem (Rechts-) Status als Menschen kommen. Mit anderen Worten: Es ist an der Zeit, neue Wege und Methoden zu finden, mit denen sich jenseits kolonialer tabula rasa Epistemologien neue Formen des Wissens zur Stadt erzählen lassen. Die Methode des Stadtlesens basiert dann weder auf einem in den harten Wissenschaften gewöhnlicher Weise angenommenem neutralen Außen – das es streng genommen gar nicht gibt – noch auf einem Vordefinieren eines zu untersuchenden Gegenstands, sondern auf einem experimentellen Mitwirken in einem prozessualen Gefüge von Menschen, Tieren, Dingen, Diskursen, Handlungen an Orten. Ich trage damit der Tatsache Rechnung, dass das Gefüge Stadt nicht stillsteht, während ich es untersuche. Die Stadt, die dann erscheint, ist ein offenes Gefüge unterschiedlicher miteinander zusammenspielender Lebensformen und Existenzweisen, ihre Versammlungen und Verschaltungen, die sich durch mannigfaltige Rhythmen improvisatorisch miteinander abstimmen und auf ein Mehr verweisen, das in ihnen existiert.

Diese Form des Blicks verlangt den Städtebauer:innen ab, das Büro zu verlassen und Teil einer Versammlung von Menschen und Dingen an Orten zu sein. Wenn man diese Form des Lesens übt und auf das städtische Alltagsleben überträgt, stellen sich noch weit mehr Herausforderungen. Wie zum Beispiel sollen wir vor dem Hintergrund des Klimawandels mit den nicht-menschlichen Akteuren wie Tieren und Dingen gemeinsame Sache machen? Was sich hier auftut sind gewaltige Unterschiede, die nicht mehr zu homogenisieren, sondern anzuerkennen sind. Wenn wir als Lesende in der Stadt umherschweifen suchen wir inmitten institutionalisierter und ökonomisierter Entfremdung nach Stellen flüchtiger Verschaltung. Es handelt sich stets um Orte, an denen man nicht abwarten kann, bis sie sich zeigen. Man muss sich selbst affizieren lassen, nach Verschaltungen suchen, Gemeinsamkeiten aktivieren. Wonach ich suche, das sind latente Verdichtungskerne von Potenzialitäten, die zwar existieren und stabil sind, aber ihre Wirkmacht erst entfalten, wenn sie gedeutet und aktiviert werden. Ich übe mich in dem Verfahren, meine Wahrnehmung zu öffnen und zu schulen während ich das überlagernde Gefüge tatsächlicher, im Werden begriffener Welten durchstreife und nach Unabgegoltenem suche – dessen jedes seine eigene Form hat.

Das zu sagen bedeutet also zunächst, anzuerkennen, dass Stadterzeugung nicht nur den Menschen vorbehalten ist. Im nächsten Schritt will ich aber herausbekommen, wie Menschen und Dinge als Stadt zusammenleben. Die neue Form des Blicks weist auf, dass sich im Stadtgefüge Muster technologisch-improvisatorischen Zusammenspiels divergierender und unterschiedlicher Lebensformen bilden. Epistemologisch gewichtig ist hier der Sachverhalt, dass es Begriff und Perspektive der technologischen Improvisation gestatten, nach relationalen Wirkungen zu fragen, ohne sie vorauszusetzen.¹ Mit der technologischen Improvisation eröffnet sich eine überraschende Methode, politische Ökonomie und Städtebau neu zu betrachten. Technologische Improvisationen sind die Handlungen in denen die Stadt nicht allein Funktionen folgt, wie es die BauNvO vorsieht, sondern als Gefüge selbst Ins-Funktionieren-kommt.

Stets ist in der Improvisationstechnologie die Erkundung virulent: Um was geht es? Wer hat Teil? Welche Optionen liegen in dem Bestehenden einer Situation vor? Welche Disposition, das heißt welche relativen Positionen, Tendenzen, Eigenschaften sind in dem Zusammenspiel einzelner Elemente in Akteur:innen oder Dingen einer Situation begriffen? Wie lässt sich Disposition zeigen? Wie können ihre Vektoren einem Wissen und schließlich einem Planen zugeführt werden, das nicht schließend, sondern öffnend wirkt? Improvisationstechnologie heißt hier schlicht: der konstruktive Umgang mit Unordnung in einem Gefüge von Menschen, Dingen, Handlungen und Diskursen an Orten.² In Improvisationstechnologie sind Stadtentwicklung, Projekt und Prozess eng und klar strukturiert und so verschaltet, dass sie Offenheit zulassen und konstruktiv halten. Wenn die Stadt keinen Fortschritt und keine Teleologie hat, kommt es darauf an, die Stadt als technologisch improvisierendes Gefüge zu lesen und nach neuen Anschlussstellen, Potenzialen Ausschau zu halten und das was ist, in Anerkennung seiner Unbestimmtheit weiterzuschreiben, so dass menschliche und nicht- menschliche Akteur:innen als Stadt koexistieren können.

Das körperliche Anheimgeben bleibt dabei stets an ein analytisches Moment des Zerlegens und Zusammenfügens gebunden. Somit koppelt sich die Immanenzpraxis an eine relationale Praxis, die hier Technologie der Improvisation heißt. Wie darin eine techne, ein praktisches Erüben des konstruktiven Umgangs mit der Unbestimmtheit relationaler Anordnungen von Menschen und Dingen, meint, so schließt die improvisationale Perspektive eine Kritik der Repräsentation ein. Indes, letztere gilt nicht dem bereits antiquierten Topos, die Unbestimmtheit des Ereignisses zu mystifizieren und damit jegliches Darstellen zu verunmöglichen. Anstatt dessen sollte man danach fragen, wie Prozesse des Machens unter Verwendung von darstellendem Material offengehalten werden können. Kritik richtet sich also nicht gegen das Planen oder Darstellen per se, sondern hat dem Verhalten zu gelten, welches wir zu ihm und dem Bild, welches wir uns von ihm machen, unterhalten. Von Deleuze erfahren wir, dass Kritik der Repräsentation nicht mit der Ablehnung von Abbildern endet, sondern darüberhinaus einen Wandel im Lesen und Produzieren von Repräsentation fordert. Wesentlich ist dabei, dass Repräsentation, als Vergegenwärtigung von Nicht-Gegenwärtigem nicht allein Vergangenes sondern auch und vor allem die Gestaltung des nicht vorhersehbaren Zukünftigen betrifft.

Wert und Schwierigkeit des improvisationstechnologischen Verfahrens besteht nicht in der Negation, sondern im Überschreiten des rationalen Planens. Insofern das wie oben bereits angerissen nicht per Externalisierung funktioniert, sondern nur anhand einer meditativen Immanenzpraxis zu erschließen ist, geht es konkret darum, sich Situationen anheim zu geben um „in“ sie hinein zu kommen. Exemplarisch für ein solches, wahrnehmungsschulendes Zedieren steht die einst von den Situationisten entwickelte Methode des Dérive. Diese Methode, die im ziellosen Umherschweifen in der Stadt besteht, ist sowohl in der formalen Rahmung (zeitliche Beschränkung auf ein bestimmtes Zeitintervall und räumliche Beschränkung auf einen Quadranten oder ein Stadtquartier) als auch, wie etwa das Projekt Naked City aus dem Jahr 1957 demonstriert, in den psychogeographischen Versuchen, diagrammatischer Darstellungen der Struktur subjektiver Stadterfahrung zu produzieren.

Keinesfalls überrascht es, dass sich das Dérive in jüngster Zeit beginnt, an neue Formen der Stadtforschung zu aktualisieren. Die Grundannahme des spatial turn aufgreifend, Raum sei „nichts Gegebenes, nichts eo ipso in der Natur Vorkommendes, sondern ein (...) produziertes Phänomen“³ wird hier der Situationismus erkenntnistheoretisch fortgeschrieben. Wo das Arbeitsmaterial als Remix von Indizes, Katalogen, Diagrammen auftritt, so verstärkt dieses die Heterogenität der Darstellung stadträumlicher Situationen. Die Absicht ist, Stadtdarstellungen so zu visualisieren und anzuordnen, dass diese – als epistemische Strukturen des Stadtwahrnehmungshandelns – ins Register des Nicht-Repräsentationalen überwechseln. Weit davon entfernt, im ontologischen Bereich zu argumentieren, verortet sich die Funktion solchen Vorgehens vielmehr im Organisationalen: Das Funktionieren der Forschungsarbeit artikuliert sich darin, den Status des Nicht-Repräsentationalen so anzuwenden, dass man a) mit Strukturen arbeiten kann, b) die Form aber im Modus des Rahmens verbleibt und c) gleichlaufend Funktionen unterbestimmt bleiben und damit d) neue Modi des Gebrauchs im Handeln an der Struktur entstehen können. Die analysierte Situation wird so einer Option des Neu-Versammelns zugeführt. Nichts anderes meint Improvisation als Technologie.

So macht es auch der zeitgenössische Fußball. Wo sich das moderne Umschaltspiel entfaltet, sind Fußballspieler nicht Akteur:innen „im“ Container Raum, sondern produzieren Raum durch ihre Bewegungen mit. Oftmals überraschen sie sich selbst und den Gegner durch die Räume, die sie sich und ihren Mitspieler:innen eröffnen. Das kann auch und im Besonderen beim Spiel ohne den Ball geschehen. Dass solche Ermöglichungsbewegungen voller Unbestimmtheit (so beispielsweise der große Mehmet Scholl über den raumdeutenden Stürmer Thomas Müller: „Man weiß bei ihm nie, wo er hinläuft.“) auch konstruktiv zu nutzen, bedarf es struktureller Einlagerungen in die Körper der Spieler:innen. Solche Strukturen müssen minimal sein damit sie multipel verschalt-, also auf die unbestimmte Situation anwendbar sind. Davon berichten Trainer:innen, wenn sie von höchster Disziplin im Lernen von „Automatismen“ sprechen. Weit entfernt, auf Instinkt reduzierbar zu sein, liefern die Automatismen jenes intelligente Reservoir zu beschreiben, das als strukturelles Potenzial diagrammatisch bzw. nicht-repräsentational in das Unbewusste der Körper eingeschrieben und in Spielsituationen abrufbar gemacht wird. Dabei tritt das Reservoir stets doppelt auf: es liegt sowohl materiell als Körperliches wie auch virtuell als Unkörperliches, also im Kommenden zu Verschaltendes vor, das sich situativ neu versammeln und verknüpfen lässt. An anderer Stelle habe ich diesen Modus als Minimalstruktur beschrieben.⁴ Dieser Terminus leitet sich von der Praxis musikalischen Improvisierens ab. Dort übt man selten Stücke, sondern meist (und lange) kleine Einheiten wie Akkorde, Umkehrungen, Intervallstrukturen usw., die dann in der Spielsituation „abrufbar“ sind, wie es wiederum im Fußball heißt.

Im Kontext der Rede von der Improvisationstechnologie vollziehe ich einen Transfer von der Organisations- zur Stadttheorie.
Der erkenntnistheoretische Gewinn dessen besteht darin, dass mir der Transfer erlaubt, vier Organisationsebenen des (Stadt)-Planens und damit auch -Lesens zu unterscheiden. Auf der ersten oder auch untersten Ebene verorte ich den Modus „Improvisation erster Ordnung“, ein Modus, der rein reaktiv und reparierend zu Werke geht, alles ad hoc löst und ohne Plan ist. Auf der zweiten Ebene ist die geplante Organisation anzusiedeln, die erkenntnistheoretisch vorgeht und versucht, Kontingenz zu überschreiben, sie auszulöschen. Die Parameter „Funktion“, „Form“ und „Struktur“ sind hier statisch. Die dritte Ebene enthält die performative, kybernetische Organisation. Diese erkennt Kontingenz an und ist formal geöffnet. Allerdings sucht sie aus Kontingenz ein Objekt zu machen und Prozess auf Input/Output-Variablen zu reduzieren. Struktur wird außerhalb der Zeit stehend (synchronisch) gedacht. Die Funktion ist festgelegt, der Prozess wird auf die Funktion hin gesteuert.

Erst auf der vierten Ebene, der Ebene der Improvisation zweiter Ordnung (als Improvisationstechnologie) kann Organisation Struktur, Form und Funktion als variabel und verhandelbar konzeptionalisieren. Die Improvisation zweiter Ordnung (als Improvisationstechnologie) konzentriert sich auf die Ordnung der Ordnung, mithin die Organisation von Unordnung. Indem sie das Vektorfeld der Kräfte in Situationen fokussiert, wird in Potenzialen gedacht; auch Funktionen, Nutzungen können innerhalb des Prozesses entstehen, ebenso wie Strukturen und Formen.

Das Handlungsmodell der Improvisationstechnologie wird in Situationen relevant, in denen organisationales Handeln Komplexität und Unvorhersehbarkeit ausgesetzt ist. Die Zahl solcher Situationen nimmt zu, auch wenn dies in den Strategien der Stadtplanung meist noch nicht sichtbar ist. D.h. die Bedingungen von Stadtplanung haben sich in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend gewandelt, das organisationale Bild, an dem sich Stadtplanung orientiert, dagegen kaum. Das stellt Planungsämter ebenso wie Städtebauer:innen zunehmend vor die Frage, wie sie in unordentlichen kontingenten Situationen handlungsfähig bleiben und diese Agency strukturell und lernend ausbauen können. Für Planungsämter und Städtebauer:innen bedeutet dies, sich besonders achtsam innerhalb des Spannungsverhältnisses zwischen Sicherheitsbedarf durch Planung auf der einen Seite und der real existierenden Erfahrung der Unsicherheit auf der anderen Seite zu bewegen. Daraus lässt sich ableiten, dass der Modus 2 der Improvisationstechnologie als Handlungsmodell zum konstruktiven Umgang mit Unordnung den Modus 1 der Improvisation als Reparatur abzulösen beginnt. Improvisation als Technologie erkennt Unordnung an und versucht, mit den Potenzialen, die in einer Situation vorhanden sind, zu agieren. „Improvisation bedeutet dann, mit den Materialien der Wirklichkeit zu arbeiten und gleichzeitig diese Wirklichkeit mit zu gestalten.“⁵ Das heißt in planerischer oder entwerferischer Hinsicht auch, auf die Lücke zwischen der Stadtwirklichkeit und ihrer Repräsentation aufmerksam zu machen, und Repräsentationen zu entwickeln, die dieser Lücke entsprechen.

"Die Stadt, die dann erscheint, ist ein offenes Gefüge unterschiedlicher miteinander zusammenspielender Lebensformen und Existenzweisen, ihre Versammlungen und Verschaltungen, die sich durch mannigfaltige Rhythmen improvisatorisch miteinander abstimmen und auf ein Mehr verweisen, das in ihnen existiert."

Gewiss, in der Stadtforschung gehört es längst zum gängigen Repertoire, im Rahmen der Wissensgenerierung und -formulierung von einer ‚Logik des raumproduzierenden Handelns‘ zu sprechen und urbane Praktiken und deren Darstellungen als eine Weise konzeptioneller Verständigung zu betrachten, in der ein Formulierungsangebot in der Erwartung geschieht, beantwortet und produktiv weitergedacht zu werden. Allerdings: Dem auf die Spur zu kommen, worin die spezifische Form der Wissensproduktion solcher Praktiken und deren Repräsentation besteht, stellt eine Herausforderung dar, die theoretisch bisher unzulänglich im Blick war: Dem abzuhelfen, gilt das Interesse meiner theoretischen Arbeit. Sie will Einblick in die Untersuchung der Frage gewähren, wie die signifikante Form der Organisation des Formens und das daraus hervorgehende Wissen und dessen epistemischer Struktur zu beschreiben ist, welche Konsequenzen die gefundene Struktur für ein Denken von Gestaltung hat und endlich wie Gestaltung selbst in die Wissensorganisation konstituierend hineinspielt. Die zu führende Auseinandersetzung knüpft daran an, dass das Verhältnis von Gestaltung und Wissen in den letzten Jahren verstärkte Aufmerksamkeit und zwar von unterschiedlicher Seite erfahren hat.⁶ Ein Unabgegoltenes gestalterisch orientierter Wissenstheorie stellt dabeibleibend, so meine These, die Fragestellung dar, ob und inwieweit Wissensformen an eine bestimmte, noch wenig thematisierte Form von Handeln gebunden sind, ein Handeln, das ich als ‚Improvisation’ zu bezeichnen vorschlage. Das birgt allerdings die oben avisierte Konsequenz, den Begriff der Improvisation neu zu denken, nicht als Notlösung, sondern als Prinzip des Schaffens von und Orientierens in transformatorischen Seinsformen urbaner Nutzer:innen. Solches erhält besondere Relevanz unter der rezenten Prämisse, dass, wie der Wissenschaftsphilosoph Georg Toepfer bemerkt, in den Archiven der Kulturgeschichte diejenigen Dokumente die interessantesten sind, die eine starke Nicht-Intentionalität aufweisen, die also „nicht mit Blick auf ihre spätere Rezeption erstellt wurden, wie Tagebücher oder Laborbücher.“⁷ Derlei Nicht-Intentionalität ist an die Qualität gebunden, „dynamische Geschehen [...] in reinen Strukturen zu repräsentieren.“⁸

In diesem Zusammenhang verstehe ich Improvisationstechnologie als ein Handlungsmodell, das auch auf der Wissens und Leseebene verankert ist. Improvisationstechnologie erlaubt in Betracht zu ziehen, dass und wie epistemische Strukturen aus Praktiken selbst hervorgebracht werden können. Daran knüpft sich der Blick auf ein Verfahren der Wissensordnung, das ich ‚gestalterische Diagrammatik’ genannt habe. Dieses Verfahren betont zweierlei: erstens die Wichtigkeit, konzeptuelles Denken mit einer Weise des Organisierens von Wissen zusammenzubringen, die, und darin besteht der zweite Aspekt, dazu befähigt, Darstellungsformen zu entwickeln, welche Prozesse offen und gleichzeitig stabil halten können. Man hat es hier zuvorderst mit einer bestimmten Form der Gestaltungs- oder Erkenntnispraxis zu tun, die zum einen, die städtische Wirklichkeit in ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit anzuerkennen sucht, wie sie eben ist und zum anderen, so an der Form des Planungsverfahrens zu drehen, dass ein intersozialer, konstruktiver Umgang mit der Unbestimmtheit des Bestehenden möglich wird. Angesichts dessen erweisen sich die Propagandisten der Europäischen Stadt als abgeschlossener Form als Deserteure vor dem Wirklichen, während jene Spielarten des Prozesspostulats, die das Informelle hypostasieren, in der Flucht vor der Form aufgehen.

Was man dagegensetzen sollte, ist, weder Form universalistisch zu setzen noch schlichtweg zu negieren, sondern an ihrem Prinzip zu hantieren. Es ist eigentlich ganz einfach: Sobald Form nicht mehr als das absolute Kriterium von Identität herhält, kann umgekehrt das Informelle nicht mehr als das absolute Kriterium der Andersheit in Stellung gebracht werden. In dem Zuge gilt: Je eher Form ihrer Finalität enthoben und geöffnet wird, umso eher kann um die Relevanz unser aller gemeinsamer Gegenstände als Stadt gestritten werden. Das zielt keineswegs, wie oft befürchtet, auf eine Enthierarchisierung der Motive, sondern erinnert an das, was im Verhältnis von Produkt und Prozess politisch auf dem Spiel steht. Ins Zentrum des Interesses rückt ein offener Formbegriff, dem das Formlose nicht das schlicht Andere der Form ist. Er steht genauer für einen Prozess, in dem Form zur Metaform aufsteigt und der Strukturen zerlegt und neu arrangiert. Meiner Ansicht nach hält ein solcher Prozess vehemente politische Implikationen bereit, denn er erlaubt, bestehende gesellschaftliche Ordnungen zu entnaturalisieren, neue zu erhandeln und die Frage zu behandeln, wie sich die offene Form organisieren lässt.

Was zur zentralen Aufgabe gerät, ist der Umgang mit der Form selbst. In dem Zusammenhang ist zunächst jenes Denken von Prozessgestaltung zu kritisieren, das Ergebnisse im Vorhinein festlegt, problemlos Problemlösungen anbietet (was beinhaltet, dass das Problem bereits vor Prozessbeginn festzustehen hat) und mit jedem gelösten Problem 25 neue schafft. Am Beispiel der Stadtentwicklung (man denke nur an Stuttgart 21) lässt sich ablesen, wie Projekte mit „standesgemäßen“ partizipativen Prozessen begleitet werden, aber außer selbstgefälligem Behaupten horizontaler Prozessualität, die das staatliche Handeln zu legitimieren hat, nichts geschieht. Gemeinsam wird durchgewunken, was sowieso geplant war. Auf der anderen Seite sehen wir uns, wie die Reaktion der Politik auf die Einwanderungsbewegungen zeigt, gewöhnlich mit einem Bild von Improvisation konfrontiert, das Improvisation in einen Modus des Reparierens verwandelt und mit dem Verb „müssen“ zusammenschiebt: Improvisieren „muss“ man nur dann, wenn man nicht richtig geplant hat oder etwas schiefgelaufen ist. Dahinter steht die Behauptung: Wenn man nur richtig geplant hätte, wäre auch alles gelungen. Exemplarisch zeigen zahlreiche städtebauliche Großprojekte, wie hier ein Zwang zur Behauptung von Plänen erwächst, die man bis zum Schluss an der Oberfläche durchhält, während direkt darunter bereits alle im Reparaturmodus improvisieren und zum Schluss alles auffliegt, implodiert und keiner etwas gewusst hat. Sicher kann man hier zunächst einwenden, dass das ganz normal ist, da hier Interessen der Macht und des Geldes im Spiel sind. Das mag richtig sein, bildet aber nur eine Seite der Medaille ab.

Nicht die Existenz eines solchen arkanen Raumes der Nicht-Repräsentation verunsichert, denn es ist beileibe kein Geheimnis, dass die Stabilität moderner Demokratien seit Anbeginn von radikal undemokratischen Praxen abhängt, wie es etwa der italienische Philosoph Giorgio Agamben⁹ oder die deutsche Philosophin Eva Horn¹⁰ überzeugend dargelegt haben. Schwerer wiegt die Diagnose, dass ein solcher Sachverhalt innerhalb einer politischen Hermeneutik der Transparenz nicht mehr zugegeben werden kann. Damit hängt unweigerlich die andere Seite der Medaille zusammen: wir haben es mit einer politischen Situation zu tun, in der – gleichlaufend mit dem neoliberalen Postulat der totalen Flexibilisierung – die Fähigkeit und der Wille offene Prozesse zu lesen und zu gestalten im gesamten gesellschaftlichen Gefüge abnimmt. Kants Frage „Was können wir wissen?“ erweitert sich hier um die Dimension des „Was wollen wir wissen?“

Womöglich liegt die Gefahr also auch darin – und man muss hier auf das Konzept der Selbstregierung des französischen Philosophen Michel Foucault ebenso verweisen, wie auf die Idee von der Kontrollgesellschaft des französischen Philosophen Gilles Deleuze – dass die Menschen im neukapitalistischen Eingang der eigenen Formlosigkeit von ganz allein das zu wollen sich antrainieren, was sie wollen können sollen. Jede Form der Kritik oder der Debatte über deren Angemessenheit gehen dort verloren, wo, mit dem deutschen Philosophen Theodor W. Adorno gesprochen, „jedes avancierte wirtschaftspolitische Gremium es für selbstverständlich hält, dass es darauf ankomme, die Welt zu verändern, und es für Allotria erachtet, sie zu interpretieren.“¹¹ Der kulturindustrielle Pop-Imperativ, der da sagt, die Menschen seien gefälligst dort abzuholen, wo sie sind und der also von allen Menschen weiß, wo sie hingehören, kapriziert sich hier aufs Beste als ein als Gefälligkeitsdienst kaschierter Paternalismus, dem die Erfahrung der Freiheit abgeschnitten ward und der nur dafür sorgen will, dass die Menschen auch dort bleiben wo sie vermutet werden. Auch hier lag Deleuze falsch: seine Einschätzung, die Popmusik sei eine emanzipatorische Angelegenheit war von einer sonderlichen Naivität. Das ist besonders wichtig dort, wo überall von Beteiligung geredet wird. Partizipation bleibt ein Mittel, ein Verfahren, kein Ziel. Was aber geschehen muss ist, dass innerhalb dieses Verfahrens die interessanten Fragen erscheinen und produziert werden können, die hinter die Probleme zurückfragen, statt in simpler Weise deren Lösungen zu postulieren. Wie kommen unterschiedliche Mehrheiten miteinander aus, wenn man nicht auf abgeschlossene Planungsroutinen setzen will? Partizipation mag schön sein, aber die Fragen „Wie?“ und „Woran?“ dürfen nicht übersehen werden.

2014 hatte der niederländische Architekt Rem Koolhaas anlässlich der von ihm geleiteten Biennale in Venedig die Architektur noch einmal in ihre Einzelteile zerlegt. Man darf dem amerikanischen Architekten Peter Eisenman in seiner Kritik an der Ausstellung zustimmen, dass der dort vorgenommenen Zerlegung die Frage der Grammatik einer Neu-Verschaltung der Elemente fehlte.12

Das gilt auch und im Besonderen im Hinblick auf Städtebau. Wer indes eine neue Weise des Verschaltens von Stadt erarbeiten will, braucht eine bestimmte Sichtweise auf Stadt. Eben jene ist mit der improvisationalen Perspektive angezeigt. Sie fußt auf der These, dass Fragmente und Singularitäten die Grundkonstituenten heutiger Stadtgesellschaft bilden. Indes, wo diese nicht mehr unter finalistischen, präformierten Ästhetiken gelesen oder behandelt werden können, liefern sie stattdessen – in improvisationaler Perspektive – Potenzialitäten für ein Redesign, Rekonfi- guration und Aufladung des Städtischen mit neuen Qualitäten. Angesichts dessen sinnt mein Ansatz auf die Rückkehr des technologisch improvisierenden Subjekts. Im Gegensatz zum angepassten, flexiblen homo oeconomicus besitzt es die Fähigkeit, aus seiner räumlich artikulierten Lebensform zum Widerstand und zur Mündigkeit zu kommen. In ihm ist forschender Zweifel an den Bedingungen der Stadtproduktion eine affirmative Tugend.

1. Dell, Christopher. Epistemologie der Stadt. Improvisatorische Praxis und gestalterische Diagrammatik im urbanen Kontext. Bielefeld: Transcript, 2016.

2. cf. Dell, Christopher. The Improvisation of Space. Berlin: Jovis Verlag GmbH, 2019.

3. Denk, Andreas, and Uwe Schröder, eds. Stadt der Räume. Vol. 5. Aachen: Fakultät Architektur an der Rheinisch­Westfälischen Technischen Hochschule, 2014.

4. Vgl. Dell, Christopher. Die improvisierende Organisation – Management nach dem Ende der Planbarkeit. Bielefeld: Transcript, 2012.

5. Ibid.

6. cf. exemplary the research project Knowledge in Design — Drawing and Writing as Procedures of Research, a cooperation of the Max Planck Institute for the History of Sci- ence, Berlin and the Art History Institute in Florence. http://www.khi.fi.it/en/forschung/projekte/projekte/projekt67/index.html; Mareis, Claudia: Design als Wissenskultur. Bielefeld 2011; Mareis/ Joost/ Kimpel: Entwerfen – Wissen – Produzieren. Designforschung im Anwendungskontext. Bielefeld 2010.

7. Toepfer, Georg: Archive der Natur, Trajekte: 14, no. 27 (October 2013): 7.

8. Agamben, Giorgio: Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt A.M: Suhrkamp Verlag, 2002.

9. Horn, Eva. Der geheime Krieg. Frankfurt A. M: S. Fischer Verlag, 2007.

10. Adorno, Theodor W. Prismen: Kulturkritik und Gesellschaft. München: Suhrkamp, 1963.

11. Valentina Ciuffi | 9 June 2014 16 Comments. Rem Koolhaas Is Stating "the End" of His Career, Says Peter Eisenman. Dezeen. November 04, 2016. Accessed September 27, 2018. https://www.dezeen.com/2014/06/09/rem-koolhaas-at-the-end-of-career-says-peter-eisenman/.

#14

20. Juni 2023

... eine dritte Frage an Laura Bernhardt

4 Fragen an die Künstlerische Leitung von CURRENT — KUNST UND URBANER RAUM

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Als aktiver Beitrag zu den Diskussionen um eine Neuausrichtung der Programme Kunst am Bau und Kunst im öffentlichen Raum wurde das Festival CURRENT – KUNST UND URBANER RAUM von Laura Bernhardt 2020 gegründet.

Wir vom Festivalteam haben Laura vier Fragen zur zweiten Ausgabe des Festivals mit dem Titel Unruhe bewahren! gestellt, das dieses Jahr vom 14. – 24. September stattfindet.

Festivalteam: Als Ausstellungs- und Veranstaltungsort konzentriert sich die zweite Ausgabe von CURRENT auf den Stadtbezirk Stuttgart Bad Cannstatt. Warum fiel die Wahl auf Cannstattund wie werden sich die künstlerischen Positionen mit dem Stadtteilthematisch im September beschäftigen?

Laura: Die Struktur von Cannstatt ist komplex, divers und gegensätzlich. Auffällig ist die Mischung oder der Kontrast von Alt und Neu, von großflächig und kleinteilig. Die Altstadt mit ihren Fachwerkhäusern, Kleinstadt-Struktur mit Einzelhandelsläden und Cannstatt als Kurort kontrastieren mit dem Wasen als Großveranstaltungsfläche und Großsportanlagen wie der Mercedes Benz Arena oder Industrieanalgen, wie z.B. der zentralen Müllverbrennungsanlage. Auch die soziale Struktur Cannstatts ist sehr divers. Dies alles spiegelt sich im Stadtbild wider und macht Cannstatt zu dem gemischtesten Stadtteile Stuttgarts. Es ist aber auch ein Stadtteil in dem städtebaulich einige Veränderungen passieren und auch weiterhin in Zukunft eine große Rolle spielen werden. Die eingeladenen künstlerischen Positionen sowie unser Kooperationsprogramm setzen sich mit dem Stadtteil auf unterschiedliche Weise auseinander. Es wird von ad-hoc Interventionen, raumgreifenden Installationen über Pop-Up Store und AR-Installation bis hin zu Workshops und diskursiven Formaten eine Bandbreite an Programmpunkten geben. Thematisch bewegen uns Wandel der Innenstädte, Arbeitsbedingungen, queer-feministische Perspektiven, aber auch Täuschungen, Störungen oder das Übermächtige. Das Programm, ist wie Cannstatt selbst eine lebendige Mischung, mit Begegnungen und Austausch, aber auch mit Gegensätzen und Widersprüchen.

#13

18. Juni 2023

Jenseits von Identitäten

Ein Beitrag aus dem CURRENT Magazin #1 von Adnan Softić

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"Das Selbst ist ein durch und durch mit Hohlräumen versehenes (Phantasie-) Gebilde, das nur wenig von seiner eigenen Fremdheit versteht. Sein ambivalentes Wesen zeichnet sich dadurch aus, dass es erst außerhalb seiner selbst, beim Anderen, zu sich kommen kann."

Man könnte behaupten, die Zivilisation fing in einer Öffnung an, vor etwa 40.000 Jahren in Australien, in einer Höhle. Der Höhle, dem ersten Haus, wohnt auch die Idee der Differenz inne – zwischen Drinnen und Draußen, zwischen dem Offenen und dem Geschlossenen. Eine Höhle ist beides zugleich – das Offene und das Geschlossene. Sie ist das Offene, da sie als ein Hohlraum in einer Festmasse (des Felsens) existiert. In Bezug auf den Menschen fungiert sie jedoch als das Geschlossene, indem sie ihn einschließt und den Schutz von außen ermöglicht. Je nach Perspektive verschieben sich die Elemente von einer Seite auf die andere, sodass eine endgültige Zuweisung nicht möglich wird.

Ihre Koexistenz ist eine komplizierte Beziehung voller Ambivalenzen.

Physikalisch gesprochen: Nur wegen dem festen Anteil kann es überhaupt eine Öffnung geben. Das Feste definiert und konstituiert sie. Andersherum ist es nicht: Das Feste bleibt auch ohne eine Öffnung als solche bestehen. Die Abhängigkeit scheint einseitig zu sein. Zwar geht mit dem Offenen immer eine Vielschichtigkeit und Mehrdimensionalität einher, doch für das Geschlossene ist das Offene vor allem auch parasitär – es bringt etwas existenzbe­drohliches mit sich. Gibt es zu viel vom Offenen, zerfällt die Festmasse und beide Elemente sind somit „weg“. Metaphysisch betrachtet: die Öffnung ist eine Bedrohung, weil mit ihr das Andere seinen Einzug findet. Sie ist eine ontologische Unbestimmtheit, sie ist ein Riss zum anderen hin; das Unbekannte, dass das eigene Selbst relativiert und jeden Bunker zum Einsturz bringen will.

So wirkt für mich, vereinfacht gesagt, auch die eigenartige Verwobenheit zwischen links und rechts, zwischen konservativ und progressiv, privat und öffentlich, bäuerlich und bürgerlich, bürgerlich und kosmopolitisch und so weiter. Die Kräfte, die sich im ständigen Kampf befinden und sich nach der Auflösung des jeweils Anderen sehnen.

Das Offene steht hier für eine Welt der permanenten Veränderungen, der Ausdehnung, Fluidität und des Fortschritts.
Das Geschlossene wiederum für eine festgelegte, unbewegliche, bodenbezogene und aufbewahrende Welt. Das Offene ist Improvisation, das Geschlossene: Organisation. Es sind entgegengesetzte Bewegungen, die meistens in einer toxischen, zerreibenden und destruktiven Beziehung zueinanderstehen. Gefangen in verfeindeten Interessen, potenziert sich ihr Verlangen nach eindeutigen Zuweisungen.

In diesem Duell gewinnt vor allem die Grenze (der Zwischenraum) außerordentlich an Bedeutung und wird zu einer unverzichtbaren Markierung, die eine Vorstellungen von vermeintlich entgegengesetzten Identitäten bildet. Eine derartige Grenze, die dicht und undurchdringbar ist, ist ein Ort des Schmerzes. Über den Schmerz vergewissert sich die Vorstellung vom Selbst und von dem Anderen.

Doch im Alltag wirken solche polarisierenden Kräfte meistens immer gleichzeitig – innerhalb einer Entität, einer Gruppe, eines Individuums, in Mitten eines Herzens... Ein Ambivalenzkonflikt, der die Autonomie des Selbst verunsichert und zerstört, zeigt sich vor allem daran, dass das Selbst im Handeln paralysiert wird, dass es gar nicht mehr weiß, wo es steht und in dem Sinne nicht über sein Leben bestimmen kann. Seine Zukunftsprognosen werden undurchsichtig, da es von scheinbar widersprüchlichen Impulsen geleitet wird.

Wer will in so einem Körper oder in einer solchen Gesellschaft leben?

Der Weg zu einem ausgewogenen und erfüllten Leben würde folglich wohl heißen, sich möglichst schnell entscheiden zu müssen, welche Seite für einen selbst am besten ist und den richtigen Schritt zu tun – zu verstehen, dass man „zwischen den Stühlen“ nicht sitzen kann, den „Zwischenraum“ zu verlassen und sich zu entscheiden... Und wenn man es nicht kann? Dann sollte man sich unverzüglich einen guten Sinn für Humor aneignen. Oder sich der Kunst zuwenden, die dann von „Zerrissenheit und inneren Brüchen“ berichten kann...

Derartige Traumbilder eines Erfülltseins lösen eine utopische Sehnsucht nach einer fugenlosen Identität aus: „Erfüllt“ soll alles in einem Selbst sein, jede Lücke muss verschwinden, jede Öffnung als fremd oder feindlich exkludiert werden. Letztlich „sterben“ muss alles, was Risse und Brüche fördert und kultiviert; was eine lückenlose Vita, eine geradlinige Geschichte, ein repräsentatives Zeichensystem eigener Identität zu verhindern droht. Ein solches Erfülltsein entspricht der Metaphysik eines Bunkers – einer Weltfremdheit, die sich ständig nur auf sich bezieht und sich gegen alles andere verteidigen muss. Wer will in so einer Welt leben –in der lauter, mit Identitäten behaftete Menschengruppen, immer wieder aufeinanderprallen? Sie können sich aber niemals und nirgendwo begegnen, denn die konstruktive Kraft, die mit einer Begegnung immer einhergeht, ist allen Identitätsneurotiker:innen zuwider. Sie sind nicht in der Lage zu verhandeln, sondern nur die Bilder von sich selbst zu präsentieren.

Doch widersprüchliche Anliegen in sich zu tragen kann auch anders als bloß bedrohlich, zerreibend und lähmend sein. Gelegentlich entwickeln sich alternative (Bewusst-)Seins-Formen, in der sich solche Kontraste und Widersprüche in einem delikaten Gleichgewicht aufrechterhalten, was wiederum zu einer einzigartigen kulturellen Reife und zu einem Grad an Differenziertheit führt, der den zwangsneurotischen Politiken der Identitäten entgegentreten kann.

Dafür bedarf es eines gespaltenen Blicks, dessen dringendes Interesse es ist, auf keine Perspektive verzichten zu wollen. In dieser Ambivalenz liegt eine trennende Kraft, ein Moment der Störung und Erschütterung. Der damit einhergehende Schmerz verschwindet jedoch nicht durch eine Abstandshaltung oder eine Abdichtung der Grenze, sondern durch eine Annäherung und ein Insistieren auf die Porosität der Zwischenräume. Dabei geht es nicht um das Einswerden, sondern um einen offenen Umgang mit der Differenz, die nicht mehr von einer Vorstellung von Autonomie und Souveränität gesteuert wird.

Mit einem gespaltenen Blick betrachtet, wird die Grenze selbst ambivalent – sie trennt und verbindet zugleich, sie ist ein Ort des Austauschs, der Mitteilung. Sie ist keine bloße Identitätsmarkierung mehr, sondern ein intersubjektiver Raum, ein Verhandlungsspielraum, in dem sich etwas Wesentliches abspielt – die Begegnung.

Dieser Verhandlungsspielraum ist von einem positiven Desinteresse geprägt, dass sich von einem depressionsförderndem, alles lähmenden Desinteresse insofern grundsätzlich unterscheidet, weil es die Fremdheit nicht auflösen will – es will mit ihr leben, mit ihr sein. Und was ist schon ein Subjekt, ein Selbst, wenn nicht auch ein temporärer Grenzbereich, in dem sich diverse Ausdrücke der Anderen verflechten – Ausdrücke familiärer, sozialer, politischer, kultureller sowie weiterer Umstände oder biologisch gesprochen: es ist ein „Treffpunk“ für die umherschweifenden Mikroorganismen...

Das Selbst ist ein durch und durch mit Hohlräumen versehenes (Phantasie-) Gebilde, das nur wenig von seiner eigenen Fremdheit versteht. Sein ambivalentes Wesen zeichnet sich dadurch aus, dass es erst außerhalb seiner selbst, beim Anderen, zu sich kommen kann.

Der Philosoph Jean Luc Nancy benutzt eine sehr hilfreiche Formulierung:„singulär plural sein“. Nach ihm, gibt es kein anderes Sein auf der Welt, als ein Mit-Sein. Er plädiert dafür, die Gemeinschaft nicht als mit sich identisch zu denken oder mit anderen Worten: Gemeinschaft nicht von einer Identität aus, sondern als Differenz zu denken.

#12

13. Juni 2023

... eine zweite Frage an Laura Bernhardt

4 Fragen an die Künstlerische Leitung von CURRENT — KUNST UND URBANER RAUM

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© CURRENT

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Als aktiver Beitrag zu den Diskussionen um eine Neuausrichtung der Programme Kunst am Bau und Kunst im öffentlichen Raum wurde das Festival CURRENT – KUNST UND URBANER RAUM von Laura Bernhardt 2020 gegründet.

Wir vom Festivalteam haben Laura 4 Fragen zur zweiten Edition des Festivals mit dem Titel Unruhe bewahren! gestellt.

Festivalteam: Was genau ist das Festival CURRENT und wie ist die Idee dafür entstanden?

Laura: CURRENT – KUNST UND URBANER RAUM ist ein transdisziplinäres Festival für künstlerische Praktiken und Formen, die im Stadtraum agieren und sich mit Stadtentwicklung und -gesellschaft sowie Architektur auseinandersetzen. Das Festival sollte einen Anstoß und Vorschlag geben, um die Rolle der Kunst im Zusammenhang von Stadtentwicklung, Städtebau und Architektur zu diskutieren, um des Weiteren darüber nachzudenken welche neuen Förderstrukturen es für diesen Bereich braucht. Den Ausgangspunkt der Idee bildete dabei für mich das Programm „Kunst am Bau“, bei dem 1-2% der Bausumme öffentlicher Bauten in Kunst investiert werden. Auf Bundesebene ist dies verpflichtend, auf Länder- und Kommunalebene kann es jeweils eigenständig entschieden werden. Die Stadt Stuttgart hat vor rund 30 Jahren ihr Programm für Kunst am Bau eingestellt. Gleichzeitig markieren die neunziger Jahre in Stuttgart den Beginn einer umfangreichen städtebaulichen Transformation mit großen Bauprojekten, bei denen auch die öffentliche Hand mit beteiligt ist. Über eine Widereinführung eines Kunst am Bau Programms wird seit Jahrzehhten diskutiert. Für mich ist es darüberhinaus viel wichtiger über neue Strukturen nachzudenken. Das Festival CURRENT macht das Thema und seine Fragestellungen greifbar.

12. Mai 2023

Tag der Offenen Tür in der Schwabenbräu-Passage am 12. Mai 2023!

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Opening Schwabenbräu-Passage ©Matter Of

Tag der Offenen Tür Schwabenbräu-Passage ©Matter Of

Diesen Freitag, den 12. Mai 2023 öffnet die ehemalige Schwabenbräu-Passage ihre Tore für alle Interessierte, die einen Blick hinter die Kulissen der dort ansässigen Ateliers und Initiativen werfen möchten. 

Das Gebäude der ehemaligen Schwabenbräu-Passage wurde 2020 von der Stadt Stuttgart erworben und wird bis 2025 von sozialen Trägern, Kulturveranstaltungen und -institutionen sowie Handwerker:innen zwischengenutzt. Wir von CURRENT sind auch mit von der Partie: unser Festivalbüro befindet sich seit April dort im dritten Stock.
Wir möchten euch alle ganz herzlich zu diesem offiziellen Tag der offenen Tür der Schwabenbräu-Passage einladen! Los geht es um 17 Uhr mit Redebeiträgen von Marc Gegenfurtner (Leitung Kulturamt), Bernhard Grieb (Leitung Wirtschaftsförderung), Sascha Bauer (Studio Cross Scale), Heide Fischer und Surja Ahmed (Fläche e.V.).
Im Anschluss stehen alle Türen offen! Kommt vorbei bei uns im dritten Stock, genießt die tolle Aussicht (Blick auf den Wasen!) und lasst uns gemeinsam bei einem Glas Brunnenwasser über die Stadt von Morgen sinnieren und wie Kunst im öffentlichen Raum ihren Beitrag dazu leisten kann!

Wir freuen uns auf euch!

OPENING Schwabenbräu-Passage
12. MAI 2023 // AB 17 UHR
Bahnhofstr. 14-18, Cannstatt-Mitte

#11

10. Mai 2023

... eine Frage an Laura Bernhardt

4 Fragen an die Künstlerische Leitung von CURRENT — KUNST UND URBANER RAUM

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© CURRENT

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Als aktiver Beitrag zu den Diskussionen um eine Neuausrichtung der Programme Kunst am Bau und Kunst im öffentlichen Raum wurde das Festival CURRENT – KUNST UND URBANER RAUM von Laura Bernhardt 2020 gegründet.

Wir vom Festivalteam haben Laura vier Fragen zur zweiten Ausgabe des Festivals mit dem Titel Unruhe bewahren! gestellt, das dieses Jahr vom 14. – 24. September stattfindet.

Festivalteam: Die Stadt Stuttgart hat kürzlich ein neues Programm für Kunst im öffentlichen Raum beschlossen. CURRENT war und ist Teil des Prozesses, der diesem Programm zugrunde liegt. Warum ist das neue Programm so wichtig für Stuttgart?

Laura: Zuallererst freut es mich sehr, dass CURRENT einen Teil dazu beitragen kann. Aus meiner Sicht liegt die Relevanz des neuen Programms für Kunst im öffentlichen Raum auf drei Ebenen:

Übergeordnet erlebt Stuttgart eine massive urbane Transformation, von der Mobiltätswende über komplett neue Quartiersentwicklungen, Veränderungen der Innenstädte, demographischer Wandel bis hin zu großangelegten Infrastrukturprojekten und den Megathemen Digitalisierung und Klimawandel. Wenn wir glauben, dass wir diese Veränderungen ohne Kultur hinbekommen, dann irren wir uns. Kunst und Kultur sollten in diesem Zusammenhang sehr ernst genommen werden. Das Programm ist für mich ein Zeichen der Wertschätzung der Kunst als essenziellen Teil dieser Veränderungen.

Kunst im öffentlichen Raum ist immer auch eine Aushandlung, wie wir uns gesellschaftlich definieren und repräsentieren. Aktuell spielen hierbei drei Punkte eine wichtige Rolle: Der öffentliche Raum hat durch die COVID Pandemie, speziell in der Zeit der Lockdowns, eine große Aufmerksamkeit bekommen. Seine Funktion für uns als demokratische Gesellschaft wurde auf den Prüfstand gestellt. Der Außenraum und damit auch maßgeblich der öffentliche Raum, wurde für unsere soziale Interaktion bewusster und als existenziell wahrgenommen. Als Gesellschaft fordern wir immer mehr Mitspracherechte und verlangen nach Gestaltungsfreiräumen. Des Weiteren sind wir eine vielfältige und vielstimmige Gesellschaft, die so auch sichtbar sein möchte. Diese Aneignung und Aushandlung des öffentlichen Raums müssen wir gesellschaftlich immer wieder neu definieren und lernen neu zu gestalten. Kunst und Kultur ist in diesem Zusammenhang wichtig und schafft Freiräume. Das neue Programm geht speziell darauf ein.

Die Bedeutung des neuen Programms für die Kulturförderung ist eine Chance auf die gegenwärtigen Bedingungen und Tendenzen der Kunst- und Kulturproduktion im Zusammenhang von urbanem und öffentlichen Raum einzugehen. Das Programm macht dies mit einer großen Offenheit und stellt Prozesse und eine transdisziplinäre Zusammenarbeit stark in den Vordergrund. Stuttgart kann so ein Modell für eine zukunftsweisende Förderstruktur sein.

#10

9. Mai 2023

Glitch-Klitsche – Bauen ohne Plan

ein Beitrag aus dem CURRENT Magazin #2 von Sylvia Winkler & Stephan Köperl

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Abb. 1: Sylvia Winkler & Stephan Köperl, Glitch-Klitsche, 2021 © Sylvia Winkler & Stephan Köperl / VG-Bildkunst

Abb. 1: Sylvia Winkler & Stephan Köperl, Glitch-Klitsche, 2021 © Sylvia Winkler & Stephan Köperl / VG-Bildkunst

Abb. 1: Sylvia Winkler & Stephan Köperl, Glitch-Klitsche, 2021 © Sylvia Winkler & Stephan Köperl / VG-Bildkunst

Abb. 1: Sylvia Winkler & Stephan Köperl, Glitch-Klitsche, 2021 © Sylvia Winkler & Stephan Köperl / VG-Bildkunst

Wie wenig es braucht, um etwas wie einen Laden, ein Restaurant oder ein Kino in die Welt zu bringen, haben wir auf unseren Reisen beobachtet. Ein Stuhl vor einem Baum, an dessen Stamm ein Spiegel angebracht ist: Kund:innen dieser Haarschneidegelegenheit sind nicht zwangsläufig schlechter frisiert als jene, die einen aufwendig ausgestatteten Coiffeur-Salon verlassen. Auf das Ergebnis kommt es an.

Mit der Vorstellung eines Kinos im Kopf und der tatkräftigen Assistentin Michelle Radam im Transporter durchstreifen wir die Stadt nach Sperrmüll. Gleich im ersten Haufen steht ein Möbelteil, welches sich für das Eingangsportal eignet. Und kurz darauf ein original Kino-Doppelsitz! Die Erfahrung hat uns gelehrt, dass es kaum ein Ding gibt, das nicht auch im Müll zu finden ist.³
Form follows Zufall. Und Neuschöpfung ist oft nur die nahe liegende Kombination des bereits Vorhandenen.

Eine alte Mikrowelle für das Instant-Popcorn, Holz aus den Containern der Stuttgart 21-Baustelle, Teile eines alten Gartenhäuschens, gerettete Schrauben und Winkel vom Kunstverein Wagenhalle am Stuttgarter Nordbahnhof.

Da die Eigentümerin⁴ des von uns bevorzugten Standorts dessen Nutzung für das CURRENT Festival verweigert, weichen wir auf den in öffentlichem Besitz befindlichen Nachtwächterplatz aus.
Nach dem Abschreiten des Grundrisses spaxen wir drauf los, bis die Balken und zurechtgezimmerten Wände nicht mehr wackeln. Weder der Eingang noch der Notausgang weisen eine Schwelle auf. Zum Dach upcyceln wir Vinylausdrucke der Grundrechtscharta der Europäischen Union von einer vergangenen Aktion.

Da – bis auf den Projektor – ohnehin alles Material gefunden ist und leicht zu ersetzen wäre, wagen wir es, die Türen nachts nur mit einem Kabelbinder zu verschließen. Nach einer knappen Woche Bauzeit feiern wir die Eröffnung. Fünf bequeme Sitzplätze warten auf Gäste.

„We shouldn’t be frightened because problems show up in our cities —but what is frightening is that we don’t seem to be solving these problems. There’s something very wrong.“ Jane Jacobs⁵

Abb. 4: Sylvia Winkler & Stephan Köperl, Glitch-Klitsche, 2021 © Luzie Marquardt

Abb. 4: Sylvia Winkler & Stephan Köperl, Glitch-Klitsche, 2021 © Luzie Marquardt

Abb. 5: Sylvia Winkler & Stephan Köperl, Glitch-Klitsche am Nachtwächterbrunnen, 2021 © Sylvia Winkler & Stephan Köperl / VG-Bildkunst

Abb. 5: Sylvia Winkler & Stephan Köperl, Glitch-Klitsche am Nachtwächterbrunnen, 2021 © Sylvia Winkler & Stephan Köperl / VG-Bildkunst

STADT SCHAUEN

„We shouldn’t be frightened because problems show up in our cities —but what is frightening is that we don’t seem to be solving these problems. There’s something very wrong.“ Jane Jacobs⁵

Für das Programm der Glitch-Klitsche haben wir zu den Themen Stadtentwicklung und urbaner Kultur recherchiert und einen 120-minütigen Loop aus 30 Kurzfilmen zusammengestellt. Wir bedanken uns noch einmal herzlich bei allen Filmemacher:innen, die uns ihre Arbeiten zur Verfügung gestellt haben!

Die zunächst nicht absehbare Durchmischung des Publikums aus der Kunstwelt, den Nutzer:innen des angrenzenden Parkhauses und Skateparks sowie dem von Prostitution geprägten Milieu des Viertels hat eindeutig positiv zum Verlauf der Aktion beigetragen.

In der Stadt der Glitch-Klitsche wurde die Diskussion um Gestaltung, Sinnhaftigkeit und Mitbestimmung urbaner Prozesse lange Jahre anhand von Stuttgart 21 heftig geführt. „Für mich ist das schon von Anfang an kein Bahnprojekt, sondern es ist ein Immobilienprojekt!“, so der ehemalige Vorsteher des Stuttgarter Hauptbahnhofs, Egon Hopfenzitz. Die filmische Collage Das Erinnerungsfoto zeigt nicht nur den breiten Protest gegen dieses Großprojekt, sondern auch das zynische Handeln verantwortlicher Politiker:innen und Manager:innen.⁶ Wie mit dem Verschwinden der Gleisflächen die Versäumnisse lokaler Baupolitik nachgeholt und Versprechen auf nachhaltige Mobilität, vielfältige Nachbarschaften oder klima- neutrale Quartiere eingelöst werden sollen, erklärt uns das Werbevideo für das zukünftige Rosensteinquartier.⁷

Mit Formen des Protests beschäftigt sich auch Anna Witt mit der Gefährdung öffentlicher Sicherheit und den daraus folgenden Verwaltungsstraftatbeständen.⁸ Aber: „Does the security protect people like me, people like us?“. Thomas Schoiswohl untersucht den Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln unter dem Aspekt von Sicherheit und der Verdrängung marginalisierter Gruppen: „In der unternehmerischen Stadt ist die Kundschaft König. Als Kund:innen und Passant:innen bewegen wir uns durch die Verkehrsbauwerke und überschreiten mühelos die Grenzen. Aber wie ergeht es den Überflüssigen, den Ausgeschiedenen, den Gestrandeten und den Mittellosen an so einem Ort? Die Sandler sind eine visuelle Belästigung. Sie verweisen auf die sozialen Widersprüche und Schieflagen unserer Zeit. Das soll nicht sichtbar sein.“ „Sicherheit, Sauberkeit, Ordnung. Baustein um Baustein. Sauberer, sicherer, ein Bausatz“.⁹ Doch lassen sich die Verdrängten nicht unsichtbar machen oder in Bausätze pressen, wie in L.A.¹⁰ oder Jakarta, wo James Nachtwey eine Familie, die unter offenem Himmel zwischen zwei Bahngleisen lebt, begleitet.¹¹

„What do we think people need to have a dignified life? It’s clear that decent housing, affordable housing, is one of those things. I think we are at an incredibly urgent moment: the extent to which we see urbanization collide with stagnant wages and a lack of affordability is unprecedented. So then we start asking: who’s gonna live in cities, who are cities for?“

Leilani Farha, die UN-Sonderberichterstatterin für das Menschenrecht auf Wohnen, benennt auch die Verantwortlichen: „In a human rights framework and through the UN system it’s very clear who is accountable: States are responsible, they have international human rights obligations, they signed treaties, they make commitments to the international community that they will uphold international human rights which include the right to adequate housing.”¹²

Saskia Sassen ergänzt: „This is not at all about housing. The buildings function as assets. You want those houses to be empty and unused. Because than you can play with them.“¹² Und der Architekturhistoriker Rudolf Stegers: „In London ist es mittlerweile so: da werden Wohnungen im Zentrum von Investoren aus allen möglichen Ländern gekauft, versiegelt und nicht benutzt und 3/4/5 Jahre später weiterverkauft. Da ist also die Wohnung in einem Hochhaus ein absolutes, reines Spekulationsobjekt, das hat mit der Funktion ‚Wohnen‘ gar nichts mehr zu tun, da wohnt auch niemand, sondern es ist in Plastik verpackt. Man besitzt die Wohnung 3 Jahre und nach 3 Jahren kann man sie teurer verkaufen, als man sie gekauft hat. Das heißt, zugespitzt, freier Markt.“¹³ Die Auswirkungen dieses freien Markts zeigt Markel Redondos Drohnenflug über die Ruinen von Ferien-Ressorts und Hotelanlagen: verlassen und nie fertigge- stellt nach dem Platzen der Immobilienblase in Spanien 2009.¹⁴ Aristofanis Soulikias hingegen erzählt uns die Geschichte der Gentri- fizierung des Boulevard St. Laurent in Montreal und seiner lebendigen Kulturszene – mit glücklichem Ausgang: „And the amazing thing is: they won!“¹⁵

„This land was once ocean. The ocean became land, a city. With a vision to build a better tomorrow in harmony with people. A green city the world has been dreaming of. And the dream is no longer just a dream – a brand new city that will lead the world. And it is here where answers to all advances in urban development or the future can be found.”¹⁶ Dass diese Zukunft der Stadt durchaus beunruhigend sein kann, zeigt New Songdo City, ein spezielles Beispiel der spekulativen Stadtentwicklung in Südkorea: Auf privatisiertem Land erbaut, von einem einzigen Unternehmen verwaltet, von multinationalen Investor:innen finanziert und als Musterstadt weltweit vermarktet. Diese Entwicklungen reflektieren wir in unserem Lied Smart Songdo Song und feiern darin auch die Menschen, welche elegante und nachhaltige Wege im Umgang mit diesen harten Realitäten finden.¹⁷

Ausgehend von gescheiterter Immobilienspekulation im Moskau der frühen 1990er Jahre entwirft das Künstler:innenkollektiv Metasitu das futuristische Szenario einer weltweit vernetzten Flughafenstadt. Ein Nicht-Ort und Supermarkt, Business Centre und Transit-Terminal zugleich. Eine geografische Leerstelle, an welcher sich Machtgeometrien durch Zugangsberechtigung manifestieren und Transiteur:innen auf Asylsuchende, Tourist:innen auf Whistleblower:innen, Klima- und Steuerflüchtige, Utopist:innen, Staatenlose und Arbeiter:innen treffen.¹⁸

Den Wahnsinn eines ganz realen Verkehrsraums zeigt uns Ron Gabriel 3 Minuten lang auf einer der 12.370 Kreuzungen New Yorks.¹⁹ Jouni Hokkanen und Simojukka Rui konnten die Disziplinierung des Straßenverkehrs in Pyongyang dokumentieren²⁰ und Jan Verbeek führt uns die Ergebenheit von Passagier:innen angesichts überfüllter Nahverkehrsmittel und deren ritualisierte Abfertigung vor Augen.²¹ Fast 1 Million Schweizer Franken in Blech sah Chris Niemeyer in 30 Sekunden im Zürich des Jahres 2005 an sich vorbeirauschen.²² Johann Lurf erstellt eine Bestandsaufnahme grotesker Raumgestaltung und suburbaner Bausünden auf knapp 100 nieder-österreichischen Kreisverkehren.²³

„Dieser Film zeigt alle nach Frauen benannten Verkehrsflächen Wiens. Er dauert 6 Minuten. Der gleiche Film über Männer wäre 54 Minuten lang.“ Aleksandra Kołodziejczyk und Karl Wratschko befragen die Repräsentanz von Frauen im Stadtbild und die Geschlechterungerechtigkeit des öffentlichen Raumes.²⁴ Diesem Verhandlungsplatz verschiedenster Bedürfnisse und Ansprüche der Stadtgesellschaft schreibt George C. Stoney schon 1964 besondere Anforderungen zu: „The three rights of (wo)men: The right to sit down, the right to get a drink of water and the right to use free public plumbing.“²⁵

In seiner Beschreibung gelungener Architektur am Beispiel des Kölner Opernhauses lobt Peter Zumthor die Komposition des Gebäudeensembles und stellt fest: „... es wird Öffentlichkeit erzeugt und das ist das größte, was Architektur in einer Stadt leisten kann: öffentlichen Raum erzeugen.“²⁶ Und Joseph Kosuth konstatiert:

„Architecture is really interesting because it’s the most political of all art forms – because it’s made for a purpose and reflects the culture.“²⁷

Dass virtuelle Architektur auch zum Träger realer Inhalte werden kann, zeigen Reporter ohne Grenzen mit ihrer Uncensored Library. Sie nutzen das Computergame Minecraft, um dort Texte von Journalist:innen, die in ihren oppressiven Heimatländern der Zensur unterliegen, zugänglich zu machen.²⁸ Leonhard Müllner und Robin Klengel nutzen die dystopische Umgebung von Tom Clancy‘s:

The Division für einen friedlichen Stadtrundgang durch ein postapokalyptisches NY. Hier begegnen wir den Theorien Le Corbusiers
und seiner Idee der totalen Stadterneuerung, der Stadtaktivistin Jane Jacobs und ihrem Opponenten, dem New Yorker Stadtplaner Robert Moses, der die autogerechte Stadt und einen sozialen Wohnungsbau auf Kosten historischer Stadtviertel und intakter Nachbarschaften vorantrieb, und landen schließlich – als Vertreter der neoliberalen Stadt – am Trump Tower.²⁹

„Architecture is really interesting because it’s the most political of all art forms – because it’s made for a purpose and reflects the culture.“²⁷

Abb. 3: Sylvia Winkler & Stephan Köperl, Glitch-Klitsche, 2021 © Luzie Marquardt

Abb. 3: Sylvia Winkler & Stephan Köperl, Glitch-Klitsche, 2021 © Luzie Marquardt

IST SUBKULTUR SKALIERBAR?

Als das Stuttgarter Kommunale Kino noch im Planetarium beherbergt war und ein Eimer zwischen den Holzstühlen das von der Decke tropfende Wasser auffing, konnte die Zahl der Besucher:innen nicht selten an einer Hand abgezählt werden. Und dennoch: Kaum ein anderer Ort, an dem eine solch überzeugende Auswahl an Filmen zu sehen war.³⁰ Auch während der Jahre im Filmhaus gehörte das kommunale Kino nicht zu den Publikumsmagneten, enttäuschte aber selten jene, die auch spät unter der Woche den Weg dorthin fanden.

Der Wunsch, die persönlichen Entdeckungen im Randständigen breitenwirksam zu institutionalisieren, ist verständlich. Doch kann dies auch gelingen? Kann ein Film- und Medienhaus³¹ in der geplanten Dimension noch den Geist des Nischenhaften und Gewagten atmen oder soll es weithin sichtbar als Garant von Progressivität im explodierten Medienangebot stehen?

Nach Ablauf des Festivals wurde vom Verein für das geplante Haus für Film und Medien die Überlegung geäußert, die Glitch-Klitsche weiterhin zu betreiben, wofür auch das Kulturamt der Stadt Stuttgart Unterstützung signalisierte. Aufgrund des nahenden Winters aber und der Kürze der Zeit ist dieser Plan letztendlich nicht umgesetzt worden.

¹ Glitch: a sudden, usually temporary malfunction or fault of equipment / an unexpected setback / Verzögerung

² winkler-koeperl.net

³ s. auch Pardo, José Luis, Nunca fue tan hermosa la basura

⁴ E. Breuninger GmbH & Co.

⁵ Laurence Hyde, City Limits, 1971, nfb.ca/film/city_limits/

⁶ Stephan Köperl, Das Erinnerungsfoto, 1997-2011, youtube.com/watch?v=-7rneeqcxBw

⁷ Stadt Stuttgart, Das neue Rosensteinquartier, 2020, youtube.com/watch?v=ghbnoBnBjMw

⁸ Anna Witt, Die Rechte des Gehsteigs, 2012.

⁹ Tomash Schoiswohl, Zur Sicherheit, 2016, vimeo.com/matzab

¹⁰ WalkingthroughLosAngeleshomelessslum|HomelesscrisisinAmerica,youtube.com/watch?v=RYKvaVOsruY

¹¹ Christian Frei: War Photographer, 2001

¹² FredrikGertten,PUSH–fürdasGrundrechtaufWohnen,2019

¹³ HansChristianPost,WessenStadt,2017

¹⁴ MarkelRedondo,SandCastles,2019,vimeo.com/325721830

¹⁵ AristofanisSoulikias,LastDanceonTheMain,2014,vimeo.com/99011728

¹⁶ Songdo,GoInsideTheCityOfTheFuture,RealLifeCinema,2018,youtube.com/watch?v=3ZKtr7vU5cI

¹⁷ SylviaWinkler&StephanKöperl,SmartSongdoSong,2013,winkler-koeperl.net/2013/incheon/songdo.html

¹⁸ Metasitu,StopOverCity,2014,metasitu.com/stop-over-city.html

¹⁹ RonGabriel,3-WayStreet,2011,youtube.com/watch?v=znhXVVCkZ2

²⁰ Jouni Hokkanen, Simojukka Rui, Pyongyang Robogirl, 2002, youtube.com/watch?v=QXTriN_6sPQ

²¹ Jan Verbeek, On a Wednesday Night in Tokyo, 2004, www.youtube.com/watch?v=nmp-9x4gOeo

²² Chris Niemeyer, 30 Sekunden Schweiz, 2005, vimeo.com/255880556

²³ Johann Lurf, Kreis Wr.Neustadt, 2011, sixpackfilm.com/de/catalogue/1916/

²⁴ Aleksandra Kołodziejczyk, Karl Wratschko, PRÄSENZ, 2020, karlwratschko.com/filme/praesenz/

²⁵ George C. Stoney, How to Live in a City, 1964, youtube.com/watch?v=2Je6Dko6mm4

²⁶ Merlin Bauer, Peter Zumthor zum Kölner Schauspiel- und Opernhaus, 2006, youtube.com/watch?v=5tu2I6ghhTU

²⁷ Joseph Kosuth, TIME SPACE EXISTENCE, Plane-Site, 2018, youtube.com/watch?v=rfX1sGydbdo

²⁸ Reporter ohne Grenzen, The Uncensored Library, 2020, uncensoredlibrary.com/de/v/about-the-library,uncensoredlibrary.com/de/v/making-of

²⁹ 29 Leonhard Müllner, Robin Klengel, Operation Jane Walk, 2019, vimeo.com/301933682

³⁰ z.B. die nach wie vor empfehlenswerte Doku: Nico Icon, 1995, youtube.com/watch?v=R1vkiQdEU7M

³¹ Haus für Film und Medien Stuttgart, hfm-stuttgart.de

#09

18. Apr. 2023

Tell me a Story. Narrative Stadtvermittlung

Ein Beitrag aus dem CURRENT Magazin #2 von Christian Haid & Lukas Staudinger, POLIGONAL

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Fig. 1: POLIGONAL, Nothing that ever was changes – Lilith: Nur Bücher von Frauen, 2022, Photo: POLIGONAL

Abb. 1: POLIGONAL, Nothing that ever was changes – Lilith: Nur Bücher von Frauen, 2022, Photo: POLIGONAL

Fig. 2: POLIGONAL, Nothing that ever was changes – Die Tuntenoper, 2022, Photo: POLIGONAL

Abb. 2: POLIGONAL, Nothing that ever was changes – Die Tuntenoper, 2022, Photo: POLIGONAL

Fig. 3: POLIGONAL, Queering Common Space, 2021, Photo: POLIGONAL

Abb. 3: POLIGONAL, Queering Common Space, 2021, Photo: POLIGONAL

Fig. 4: POLIGONAL, Queering Common Space / Liz Rosenfeld, 2021, Photo: POLIGONAL

Abb. 4: POLIGONAL, Queering Common Space / Liz Rosenfeld, 2021, Photo: POLIGONAL

Gesellschaftliche und technologische Veränderungen bedeuten einen radikalen Wandel: Ganzheitlich, vernetzt und transparent scheint die Komplexität der Welt selbst die größte Herausforderung aber auch Chance zugleich zu sein. So ist es kaum möglich, jeden einzelnen Aspekt und jede Nuance unserer Lebenswelt vollständig zu verstehen. Die kognitiven Fähigkeiten des Menschen sind dazu wohl gar nicht in der Lage. Was für die Welt gilt, gilt gleichermaßen auch für die Stadt und ihre komplexen Gefüge. Städte sind mehr als bloße Ansammlungen von Gebäuden und Infrastrukturen. Sie sind mehr als Straßenraster, die A und B miteinander verbinden. Städte sind alles auf einmal – mit unzähligen parallel stattfindenden Ereignissen, Begegnungen und Geschichten, die in einem Netzwerk untrennbarer Verflechtungen simultan stattfinden und Räume schaffen. Über Tausende von Jahren hat eben diese Komplexität die großartigsten Errungenschaften der Zivilisation hervorgebracht: von der Demokratie zur Gewerkschaftsbildung, von der Typografie zum Sinfonieorchester, von der Elektrizität zur Herztransplantation. Wo Menschen aufeinandertreffen, Geschäfte machen, arbeiten und dadurch auch aufeinander angewiesen sind, werden neue Dinge ausverhandelt, in die Welt gebracht. Neue Erzählungen werden weitergegeben. Die Stadt, wie wir sie verstehen, ist transformatorisch, der Lokus, in dem sich Gesellschaft verändert, entwickelt und entfaltet. Dazu gehören leider auch soziale Ungleichheit, Armut, gesellschaftliche Ausgrenzung und Kriminalität. Dies ist ein Verständnis von Stadt und Stadtleben als Prozess, als etwas, das ständig im „Sich-selbst-Herstellen” ist und von Uneindeutigkeit und Unvorhersehbarkeit geprägt ist: „Die Stadt ist ständig im Entstehen"₁– und das immer rasanter.

Die zunehmende Komplexität urbaner Räume stellt für die Stadtplanung und Architektur eine wachsende Herausforderung dar. Auch die Planungspraxis wird komplexer und die konventionelle Ermittlung von Planungsgrundlagen im Kontext der Hyperkomplexität stößt an ihre Grenzen. Die Entwicklung neuer Formate und Kommunikationsmethoden wird demnach zur wesentlichen Kernaufgabe der Stadtvermittlung – als Grundlage für breit informierte Planungsprozesse und -entscheidungen. Welche Vermittlungsformate und -modelle können dieser neuen Komplexität begegnen? Welches Vokabular kann dafür entwickelt werden?

„Manchmal ist die Realität zu komplex. Geschichten geben ihr eine Form.“ Davon ist der Regisseur Jean Luc Godard überzeugt und erzählt in seinen Filmen vermeintlich Unerzählbares über zwischen- menschliche Verflechtungen und soziale Kosmen. Geschichten erweitern Dimensionen der Wahrnehmung und somit der Vorstellungskraft – Inhalte und Fakten werden vermittelbarer. Ihr Potenzial: Geschichten begeistern, empören, machen empathisch, motivieren und informieren. Ihr Vokabular ist erweiterbar, ihre Syntax variabel. Können also Storytelling, das Sammeln von Narrativen und das Formulieren von Metaphern zu Werkzeugen der Stadtforschung und -vermittlung werden und der Hyperkomplexität begegnen?

Wie können die Grundlagenermittlung und Planungssprache weiterentwickelt werden, um politische Debatten zu informieren und Entscheidungsfindungen demokratisch und gemeinwohlorientiert zu beeinflussen? Und: Wessen Geschichten sollen erzählt werden? Wie finden die Narrative jener Gruppen Gehör, die sonst tendenziell ungehört bleiben?Dazu zählen marginalisierte Gruppen wie Geflüchtete, queere Communities, BIPOC, aber auch Jugendliche und Obdachlose – Gruppen, die einen wesentlichen Beitrag zum Stadtleben leisten, deren Bedürfnisse und Narrative in Entscheidungsprozessen zur Gestaltung urbaner Räume jedoch wenig vertreten sind und die wenig Zugang zu konventionellen Partizipationsformaten haben. Geschichten zu erzählen ist also politisch.

Die Stadtforschung und -vermittlung muss gewohnte Pfade verlassen. In unserer Arbeit bei POLIGONAL stellen wir die These auf, dass schwer erfassbare Zusammenhänge mit Formaten des Geschichtenerzählens vermittelbarer werden. Das Sammeln, Sichtbar- und Hörbarmachen von unterrepräsentierten Aspekten des städtischen Lebens – von Themen, die in der öffentlichen Wahrnehmung oft untergehen – ist für uns Experimentierfeld sowie die Grundlage für einen konstruktiv-kritischen Diskurs zwischen Bewohner:innen, Expert:innen und Entscheidungsträger:innen.

Wir plädieren für formatübergreifende Sammlungen urbaner Geschichten – Sammlungen, die konstant wachsen können, die leben und die den Veränderungen im städtischen Kontext laufend Rechnung tragen. Wir plädieren für Archive – und Gegenarchive – zur Bündelung unterrepräsentierter Stimmen und als Informationsquelle im Kontext urbaner Transformation: in Form von frei zugänglichen barrierefreien Datenbanken, interaktiven open-source Mappings und Kartierungen, Kompendien künstlerischer Dokumentationen urbaner Alltagsgeschichten und Kommentare persönlicher Stadterlebnisse und -erfahrungen. Nur durch einen Perspektivenwechsel kann man dem Verständnis für die Stadt als komplexes System ein Stück näherkommen. Die künstlerische Praxis bietet an dieser Stelle eine Vielzahl kreativer Formate zur Dokumentation und Vermittlung von komplexen Zusammenhängen, aber auch individueller Emotionen: Filme, Hörspiele und Musik – laienhaft aber auch professionell; Performance, Tanz und Poesie lassen breite Wahrnehmungsspektren zu, die in Kombination mit etablierten Forschungsmethoden und -ergebnissen komplexe urbane Lebensrealitäten oftmals präziser, holistischer und realitätsnaher darstellen.

Geschichten erweitern Dimensionen der Wahrnehmung und somit der Vorstellungskraft – Inhalte und Fakten werden vermittelbarer. Ihr Potenzial: Geschichten begeistern, empören, machen empathisch, motivieren und informieren. Ihr Vokabular ist erweiterbar, ihre Syntax variabel.

Fig. 3: POLIGONAL, Queering Common Space, 2021, Photo: POLIGONAL

Abb. 3: POLIGONAL, Queering Common Space, 2021, Photo: POLIGONAL

Fig. 4: POLIGONAL, Queering Common Space / Liz Rosenfeld, 2021, Photo: POLIGONAL

Abb. 4: POLIGONAL, Queering Common Space / Liz Rosenfeld, 2021, Photo: POLIGONAL

Die Arbeit Nothing that ever was changes (2022, siehe Abb.1+2), in der wir uns auf die Suche nach verschwundenen Orten queerer Stadtkultur gemacht haben, porträtiert in einem Kompendium aus Hörbildern mit Interviews und O-Tönen queerer Stadtmacher:innen und Aktivist:innen die Komplexität queerer Orte, die es nicht mehr gibt. Die Erzählungen der Potagonist:innen verbinden sich mit historischen Fakten, zeichnen ein komplexes Bild der Orte im Laufe der Jahrzehnte und kontextualisieren so deren Abhängigkeit von allgemeinen stadttransformatorischen Prozessen wie Gentrifizierung, Verdrängung und Marginalisierung. Frei zugänglich über QR-Codes können die Geschichten der Protagonist:innen an den Ort direkt abgerufen werden und werden so zu einem offenen Archiv queerer Stadtkultur direkt im Stadtraum.

Auch mit dem Projekt Queering Common Space (2021, siehe Abb.3+4) entwickelten wir eine Online-Plattform₂, die die Bedeutung urbaner Räume als Aktionsräume für queere Communities sichtbar macht. Dieses offene Online-Archiv lädt Personen dazu ein, persönliche Erlebnisse und Momente mit und an queeren Orten in Form von Bild-, Audio- und/oder Textbeiträgen zu teilen. Die dadurch porträtierten Alltagserfahrungen, die sowohl Freuden als auch Traumata thematisieren, erlauben einen intimen Blick in die Lebensrealitäten queerer Personen und ihre urbanen Praktiken. Das Projekt wurde unter anderem im Rahmen der Ausstellung Freistaat Barackia im Kunsthaus Bethanien in Berlin, 2021, gezeigt: Das Kuratorinnenkollektiv Nyabinghi Lab thematisierte darin die Bedeutung des Archivierens von Stadtgeschichte für das kollektive Gedächtnis und die Erinnerungskultur. Die namensgebende informelle Siedlung Barackia – im südlichen Teil des heutigen Kreuzberg gelegen – wurde im 19. Jahrhundert von wohnungssuchenden Arbeitsmigrant:innen und zu großen Teilen von Personen mit afrikanischen Wurzeln gegründet und bewohnt, bevor sie nach zwei Jahren Existenz abgerissen wurde. Die Existenz dieser nicht nur aus urbanistischer Perspektive höchst interessanten Siedlung ist heute kaum jemandem bekannt. Die marginalisierten Bewohner:innen und deren Leistung als Stadtmacher:innen erschienen der damaligen Geschichtsschreibung nicht relevant genug. Die Ausstellung versuchte diesem historischen Versäumnis entgegenzuwirken und einen Bogen zu aktuellen Themen der Stadtentwicklung zu spannen.

Die Dokumentation, Archivierung und Vermittlung von (Stadt-)Geschichten kann und muss Planungs- und Transformations- prozesse begleiten und sollte demnach auf der gleichen Ebene wie traditionelle Planungswerkzeuge betrachtet werden. Die Vermittlung von Stadt an der Schnittstelle zu künstlerischer Praxis muss eine selbstverständliche Grundlage der Stadtplanung und Stadtentwicklung sein. Dieses erweiterte Verständnis von Planungskultur kann zu einer informierteren und gemeinwohlorientierteren Entwicklung der Stadtgesellschaft beitragen und Gestalter:innen in ihrer Entscheidungsfindung unterstützen: ob Architekt:innen, Stadtplaner:innen, Designer:innen, Politiker:innen oder Bürger:innen an der Wahlurne. Denn, wie Mary Catherine Bateson schreibt „Die menschliche Spezies denkt in Metaphern und lernt durch Geschichten.“₃

₁ AbdouMaliq Simone: Citylife from Jakarta to Dakar, London 2009.

www.queeringspace.xyz

₃ M.C. Bateson: Peripheral vision, New York 1994

17. Apr. 2023

CURRENTLY – Das digitale Skizzenbuch & mehr

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Das digitale Skizzenbuch CURRENTLY geht in die nächste Runde und damit starten wir den Countdown für das zweite Festival CURRENT – KUNST UND UBRANER RAUM vom 14. – 24. September 2023.

Zwar ist es noch eine Weile hin bis September, doch der Frühling liegt schon in der Luft und die Vorbereitungen für das zweite Festival sind im vollen Gange. Derzeit befindet sich das kuratorische Team mitten in Gesprächen und Diskussionen über Formate und Programmschwerpunkte zum Thema Unruhe bewahren! mit Künstler:innen, Kollektiven und Kooperationspartner:innen.

CURRENTLY begleitet die Prozesse, Ideen, Gedanken und Eindrücke der Beteiligten von CURRENT seit der ersten Festivaledition 2021. Für die zweite Festivalausgabe erweitern wir das Skizzenbuch-Format um Newsbeiträge, Blicke hinter die Kulissen, inhaltlichen Anregungen zum Titelthema, FREE READS aus dem CURRENT Magazin und vielen weiteren Formaten.

Taucht ein in die Welt von CURRENTLY, stay tuned und bewahrt Unruhe!

8. Feb. 2023

Stuttgart hat ein Programm für Kunst im öffentlichen Raum!

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© Kulturamt Stadt Stuttgart

Worskhoptag "Stuttgart bekommt ein Programm für Kunst im öffentlichen Raum" © Kulturamt Stadt Stuttgart

Gemeinderatsbeschluss vom 8. Februar 2023

"Kunst im öffentlichen Raum ist Teil des urbanen Lebens, das gesellschaftliche und stadtplanerische Entwicklungsprozesse der Stadt anstoßen und begleiten kann. Sie gestaltet Kommunikations- und Reflexionsräume für die Stadtgesellschaft und schafft damit Zugänge zur Kunst.“
Mit dieser Begründung (Auszug) hat der Gemeinderat der Stadt Stuttgart das Programm für Kunst im öffentlichen Raum offiziell beschlossen! Vor knapp einem Jahr starteten die Vorbereitungen für den Auftakt-Workshop zur Erarbeitung des Programms, den wir in Kooperation mit dem Kulturamt Stuttgart organisieren durften. Aus den intensiven Diskussionen und Arbeitsgesprächen am 23. Juni 2022 entstanden dann die ersten Ideen, Maßnahmen und Wünsche für das Programm.
Weitere Informationen zum KiöR-Programm findet ihr auf www.stuttgart.de/kioer

Wir sind unglaublich begeistert und freuen uns sehr, dass wir Teil dieses spannenden Prozesses sein konnten und sind. Vielen herzlichen Dank an das Kulturamt der Stadt Stuttgart, den Gemeinderat der Stadt Stuttgart und an alle Beteiligte, die zum Beschluss des Programms beigetragen haben. Cheers!

#08

13. Sept. 2021

Aus der Reihe »Der verstrahlte Hügel«: Strahlung/Wellen/Fragmente

Ein Beitrag von Atelier Ameisenberg / Werkstatthaus

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© Atelier Ameisenberg / Oana Vainer & Michl Schmidt

© Atelier Ameisenberg / Oana Vainer & Michl Schmidt

Eine kleine Expedition betritt den riesigen Hohlraum im Ameisenberg, den 40 Millionen Liter Wasser im ehemaligen Speicher zurück gelassen haben.Der Strom wurde für drei Stunden wegen Bauarbeiten abgeschaltet, die Lichtstrahlen der Taschenlampe leuchten der Gruppe den Weg, was die Konzentration auf das Hörbare verstärkt.Für den Soundtrack sorgt die Shakuhachi und das lange Zurückschwingen ihrer Töne.

In meiner Vorstellung geht ein Strahl direkt geradeaus, von A nach B, von der Sonne zur Erde. Wird von Strahlung im physikalischen Sinne gesprochen, haben wir es allerdings häufig mit Wellen zu tun. Ein Merkmal von Strahlung kann ihre Unsichtbarkeit sein, welche oft ein Unbehagen auslöst, auch wenn die Wirksamkeit von Strahlung nicht notwendiger Weise gefährlich oder schädlich ist. Das Adjektiv „verstrahlt“ meint die Kontaminierung durch Strahlung, wie auch einen Zustand der Entrücktheit, hervorgerufen beispielsweise durch die Wirkung psychoaktiver Substanzen, spiritueller Erfahrungen, oder anderer Einflüsse, die das bei sich Sein beeinträchtigen und einen Parallelzustand initiieren, der für die Anderen nicht sichtbar ist. Eine weitere Technik des Unsichtbarmachens ist die Verdrängung. Hierbei wird etwas real Existentes aus dem Sichtfeld gebracht, ganz im Gegensatz zur Verstrahltheit, bei der scheinbar nicht-existente Dinge gesehen und erfahren werden können.

Ein Hügel ist eine natürlich entstandene, oder eine künstlich geschaffene Anhöhe in der Landschaft, sie ist kleiner als ein Berg und nicht wesentlich länger als breit. Vom Menschen erschaffene Hügel, wie keltische Gräber oder Abraumhalden haben automatisch eine kulturelle Relevanz, aber auch das Bewohnen natürlicher Hügel spielt kulturgeschichtlich eine Rolle, zum Beispiel eine strategische, um rechtzeitig sehen zu können wer kommt und vielleicht auch warum. Auf dem Hügel, wo sich unser Atelier befindet hört man sehr selten den Motor eines Rasenmähers, obwohl es in der Umgebung viele Gärten gibt. Vermutlich beherbergen diese Gärten wenig Rasenflächen oder der Rasen wird nicht gemäht und es wachsen Wiesen, die dann mit der Sense geschnitten oder vom Vieh (Gänse, Kühe) beweidet werden oder die Gräser sterben ab, kompostieren und werden in einem unendlichen Kreislauf Dünger für die folgenden Vegetationsgenerationen. Sowie für den Sequoiadendron, für den sich dieser Kreislauf bereits seit über 100 Jahren wiederholt und der auf dem Gelände der Villa Hauff in direkter Konkurrenz zum Gebäude steht und so ein Gegenmodell zu diesem und vor allem zum Bunker und Gänge-System (das sich Spekulationen zu Folge unter der Villa befinden soll) darstellt.Spekulation, Legende und Mythos sind nicht das Gleiche, aber doch in gewisser Weise miteinander verwandt.

Claude Lévi-Strauss schrieb: Mythen haben keinen Autor, sobald sie als Mythen wahrgenommen werden, was immer ihr Ursprung sein mag, gibt es sie nur in einer Tradition verkörpert. Wenn ein Mythos erzählt wird, empfangen die Hörer:innen eine Botschaft, die eigentlich von nirgendwoher kommt; dies ist der Grund, weshalb man ihm einen übernatürlichen Ursprung zuschreibt.

#07

1. Sept. 2021

zoomorphic islands

Ein Beitrag von Valentina Karga

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Valentina Karga, zoomorphic islands, concept sketch, 2021

Valentina Karga, zoomorphic islands, concept sketch, 2021

zoomorphic islands – a concept sketch for ISLAND or Infrastructure’s infrastructure

#06

21. Aug. 2021

Lass nochmal die Brücke da drüben anhören...

Ein Beitrag von Julien Fargetton & Benjamin Frick

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Preperations for Fühlerskop – a handmade recording device for exploring the urban © Julien Fargetton & Benjamin Frick

Vorbereitungen für das Fühlerskop – ein selbstgebautes Aufnahmegerät zur Erkundung des Urbanen © Julien Fargetton & Benjamin Frick

© Julien Fargetton & Benjamin Frick

© Julien Fargetton & Benjamin Frick

© Julien Fargetton & Benjamin Frick

© Julien Fargetton & Benjamin Frick

© Julien Fargetton & Benjamin Frick

© Julien Fargetton & Benjamin Frick

Uns sonst verschlossene Sphären wie Vibrationen, magnetische Wellen, Bewegungen, Texturen und Dichte werden erlebbar. Unsichtbare, unhörbare oder vernachlässigte Elemente werden zur Komposition, vergessene Räume aus dem alltäglichen Leben zum Zentrum unserer Aufmerksamkeit. Aus unserer Gewohnheit, hastig das große Ganze zu konsumieren, trainiert uns das Fühlerskop in Langsamkeit und hilft dabei mikroskopische Klänge zu erforschen. Kleine Risse werden auditiv verstärkt, winzige Kiesel äußern sich laut hörbar, Geldautomaten, Elektroroller und Magnetstreifenleser produzieren akustisch entspannende Meditationsfelder...

Fühlerskop ist eine Einladung, das bereits Bekannte zu erkunden.

#05

19. Aug. 2021

Glitch Klitsche – die Sofortlösung

Ein Beitrag von Sylvia Winkler & Stephan Köperl

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© Sylvia Winkler, Stephan Köperl

© Sylvia Winkler, Stephan Köperl

© Sylvia Winkler, Stephan Köperl

© Sylvia Winkler, Stephan Köperl

© Sylvia Winkler, Stephan Köperl

© Sylvia Winkler, Stephan Köperl

© Sylvia Winkler, Stephan Köperl

© Sylvia Winkler, Stephan Köperl

© Sylvia Winkler, Stephan Köperl

© Sylvia Winkler, Stephan Köperl

© Sylvia Winkler, Stephan Köperl

© Sylvia Winkler, Stephan Köperl

Die Glitch Klitsche ist die Sofortlösung für eine längst überfällige Spielstätte – ein Interimskino – mit anspruchsvollem Kulturprogramm. Das Kino besteht aus recycelten Materialien, die ohne großen Aufwand in kurzer Zeit zusammengezimmert werden. Mit wiederverwendeten Geräten wird das Kino betrieben und bietet Platz für ein sehr kleines Publikum. Ein temporärer und begehbarer Auftakt für die schon so lang ersehnte Rückkehr eines Kinos. Noch sind es bloß ein paar Bretter, schon bald laden die Künstler:innen zum Richtfest in die Leonhardsvorstadt…

#04

5. Aug. 2021

GET IN TOUCH!

Ein Beitrag von SuE (Stadtplanung und Entwerfen) – Universität Stuttgart

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SuE going public. Student work from Karen Berger, Irene Calero Pages, Diego de la Guardia, Elena Grimbacher, Shirin Hillawi, Mathilde Josse, Ann-Marie Klar, Sinem Molenaar, Manuel Motschiedler Viktoria-Louise Müller, Alptug Gökalp Namver und Maria Inês Pires Reis © Lehrstuhl Stadtplanung und Entwerfen

SuE going public. Studierendenarbeit von Karen Berger, Irene Calero Pages, Diego de la Guardia, Elena Grimbacher, Shirin Hillawi, Mathilde Josse, Ann-Marie Klar, Sinem Molenaar, Manuel Motschiedler Viktoria-Louise Müller, Alptug Gökalp Namver und Maria Inês Pires Reis © Lehrstuhl Stadtplanung und Entwerfen

SuE going public. Studierendenarbeit von Karen Berger, Irene Calero Pages, Diego de la Guardia, Elena Grimbacher, Shirin Hillawi, Mathilde Josse, Ann-Marie Klar, Sinem Molenaar, Manuel Motschiedler Viktoria-Louise Müller, Alptug Gökalp Namver und Maria Inês Pires Reis © Lehrstuhl Stadtplanung und Entwerfen

SuE going public. Studierendenarbeit von Karen Berger, Irene Calero Pages, Diego de la Guardia, Elena Grimbacher, Shirin Hillawi, Mathilde Josse, Ann-Marie Klar, Sinem Molenaar, Manuel Motschiedler Viktoria-Louise Müller, Alptug Gökalp Namver und Maria Inês Pires Reis © Lehrstuhl Stadtplanung und Entwerfen

„Wir haben seit der Pandemie entdeckt wie wichtig es ist mit anderen Menschen und uns selbst in Kontakt zu treten. Das Ziel dieser Ansammlung von Orten ist es all diese lang vergessenen Orte des physischen Austausches wieder in das Bewusstsein zu rufen. Wir haben es satt, zu Hause zu bleiben! Es ist an der Zeit rauszugehen und sich im Stadtraum aufzuhalten: Mit Freund:innen, mit einer Verabredung, bei einem Abendessen mit der Familie, bei einem spontanen Treffen mit Fremden... All dies kann man in Stuttgart finden. Diese Kommunikationsstadtkarte hilft Ihnen Orte zu finden, an denen Sie sich auf unterschiedliche Weise treffen können. Abhängig von Ihren eigenen Bedürfnissen. Öffnen Sie jetzt die Karte, wählen Sie einen Ort aus und treten Sie in Kontakt!"

Besonders nach der Pandemie werden der städtische Raum und die physische Kommunikation wieder eine wichtige Rolle einnehmen. Im Rahmen des Seminars "Sue Going Public" haben Studierende der Universität Stuttgart die wichtigsten Interaktionsräume für Kommunikation in der Stuttgarter Innenstadt auf einer Karte verortet. Diese Stadtkarte ist ein Ausgangspunkt für jede:n, bereit mit anderen oder mit sich selbst im öffentlichen Raum in Kontakt zu treten. Um das soziale Engagement weiter auszubauen, wurde eine interaktive digitale Karte erstellt, in die man weitere eigene Orte der Kommunikation einfügen kann. Somit kann in Kontakt mit den Studierenden und der Universität Stuttgart getreten werden. 

Karen Berger, Irene Calero Pages, Diego de la Guardia, Elena Grimbacher, Shirin Hillawi, Mathilde Josse, Ann-Marie Klar, Sinem Molenaar, Manuel Motschiedler Viktoria-Louise Müller, Alptug Gökalp Namver und Maria Inês Pires Reis untersuchen gemeinsam mit den Mitarbeitern des Lehrstuhls Stadtplanung und Entwerfen, Prof. Dr. Martina Baum, Alba Balmaseda Dominguez und Jonas Malzahn.

#03

23. Juli 2021

Aus der Reihe »Der verstrahlte Hügel«: Sirop de muguri de brad, Venus de Piatra N. (Sandsteinvenus) #02

Ein Beitrag von Atelier Ameisenberg / Werkstatthaus

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 © Atelier Ameisenberg

© Atelier Ameisenberg

 © Atelier Ameisenberg

© Atelier Ameisenberg

 © Atelier Ameisenberg

© Atelier Ameisenberg

Zurück im Süden Deutschlands, in Stuttgart, im Mai 2021, wo der einzige Tannenbaum in unserem Ateliergarten höher ist als all die Häuser drumherum, inklusive unseres Hauses. Die Spitzen des Tannenbaums waren reif für das Zubereiten des jährlichen Hustensirups. Als ich die Spitzen zupfte, hörte ich eine Stimme rufen, die immer lauter wurde. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob es an der lauter werdenden Stimme oder meiner wachsenden Aufmerksamkeit lag. Es war die Nachbarin aus dem gegenüberliegenden Haus, ein weißes, freistehendes Haus mit drei sehr langen weißen hängenden Stoffstreifen. „Was machen Sie da, was pflücken Sie, wofür, was machen Sie damit?” Ich war überrascht. Denn ich dachte, dass die meisten Menschen in dieser Gegend mehr oder weniger stark vom anthroposophischen Gedankengut beeinflusst sind, was mich glauben ließ, dass dadurch viele einen Zugang zur Pflanzen- und Heilpflanzen Welt haben. Damit lag ich falsch. Die freudestrahlende Nachbarin hatte von dem Tannenspitzensirup nie zuvor gehört. Es war nicht so, dass ich mich ob meiner Heilpflanzen Kenntnisse der Gegend nahe gefühlt habe. Nun aber fühlte ich mich als Außenseiterin und sah mich bildlich schon fast in der Rolle der Schwester aus dem Märchen Die sechs Schwäne der Brüder Grimm, mit Kohle im Gesicht und im Versteck der Dunkelheit Brennnessel um Brennnessel pflücken. Gleichzeitig erzählte sie mir welcher Tee – gebraut aus eigenen Gänseblümchen – die Haut verschönert. Sie bat mich um ein Rezept, ich brachte ihr eine für mich außergewöhnliche Variante, mit Honig als Ersatz für den Zucker, wie sie wünschte. Als Dankeschön bekam ich Lauch aus dem eigenen Garten, frisch geerntet. In gewissem Sinne ist der Tannensirup aus dieser Begegnung entstanden, nach meinem Rezept genießt nun die Nachbarin ab und zu ihren eigenen Sirup aus eben diesen Tannenspitzen.



Înscenarea lui Venus!

Venus de Piatra Neamț

#02

19. Juli 2021

PORÖSES STUTTGART

Ein Beitrag von Begleitbüro SOUP

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Entrance S-Bahn Schwabstrasse, © SOUP

Zugang S-Bahn Schwabstrasse, © SOUP

von Kurt Grunow

Der Bau des S-Bahnhofs Schwabstrasse in Stuttgart 1974 kann als signifikante Erweiterung des Bestandes an „porösen“ Strukturen im Stadtkörper angesehen werden. Dies nicht nur wegen der 1,5 km langen unterirdischen Wendeschleife, die von dem 5 km langen Hasenbergtunnel südlich des S-Bahnhofs abzweigt, sondern auch aufgrund der weitläufigen unterirdischen Räume, die beim Bau des 27m unter der Straßenoberfläche liegenden S-Bahnhofs entstanden sind. Bei der Fertigstellung des in offener Bauweise erstellten Bahnsteigbereichs wurden am südlichen Ausgang insgesamt drei übereinanderliegende Zwischengeschosse konstruiert, die wohl allein der Verfüllung der gewaltigen Baugrube wegen geschaffen wurden, denn die Räume sind von der DB nie genutzt worden. Die mittlere dieser Etagen hat eine Grundfläche von 450 qm, die beiden anderen dürften von ähnlicher Größe sein. Auch in anderen unterirdisch gelegenen Bahnhofsanlagen der Stadt gibt es solche als „Lager“ ausgewiesene Leerräume; mitunter werden sie an Gruppen oder Einzelpersonen vergeben, die darin Freizeitaktivitäten entfalten wie z.B. Rockmusik oder auch Eisenbahnmodellbau. Besonders die Modellbahner finden in diesen Kapillaren der Stadt gute Arbeitsbedingungen vor, denn umgeben vom echten Eisenbahnbetrieb lässt sich an dessen maßstabsgerechter Verkleinerung um so motivierter und leidenschaftlicher laborieren.

Einer der erstaunlichsten Aktivisten auf diesem Gebiet ist wohl der Eisenbahnangestellte Wolfgang Frey gewesen – von 1992 bis zu seinem frühen Tod 2012 erbaute er in jenem Zwischengeschoss C2 im S-Bahnhof Schwabstrasse ein Modell des Hauptbahnhofes mit allen anschließenden Gleisanlagen und Stadtgebieten bis Bad Cannstatt in der einen und dem Stuttgarter Westen in der anderen Richtung.

Stadtmodell von Wolfgang Frey in Herrenberg, @ SOUP

Stadtmodell von Wolfgang Frey in Herrenberg, @ SOUP

Stadtmodell von Wolfgang Frey in Herrenberg, @ SOUP

Stadtmodell von Wolfgang Frey in Herrenberg, @ SOUP

Kopie des Stellwerks von Wolfgang Frey, Zwischengeschoss C2, @ SOUP

Kopie des Stellwerks von Wolfgang Frey, Zwischengeschoss C2, @ SOUP

Original des Stellwerks im Hauptbahnhof Stuttgart, @ SOUP

Original des Stellwerks im Hauptbahnhof Stuttgart, @ SOUP

Die Festung der Einsamkeit, Foyer Zwischengeschoss C2, @ SOUP

Die Festung der Einsamkeit, Foyer Zwischengeschoss C2, @ SOUP

Zwischengeschoss C2, ‚Kenotaph für Wolfgang Frey / der Unterbau‘, heutige Raumsituation, © K.H.Bogner

Zwischengeschoss C2, ‚Kenotaph für Wolfgang Frey / der Unterbau‘, heutige Raumsituation, © K.H.Bogner

Modellwelten als Weltmodelle 1: Das Stellwerk / Scheinanlage Stuttgart, Rauminstallation Galerie AK2, 2021, © SOUP

Modellwelten als Weltmodelle 1: Das Stellwerk / Scheinanlage Stuttgart, Rauminstallation Galerie AK2, 2021, © SOUP

Einer der erstaunlichsten Aktivisten auf diesem Gebiet ist wohl der Eisenbahnangestellte Wolfgang Frey gewesen – von 1992 bis zu seinem frühen Tod 2012 erbaute er in jenem Zwischengeschoss C2 im S-Bahnhof Schwabstrasse ein Modell des Hauptbahnhofes mit allen anschließenden Gleisanlagen und Stadtgebieten bis Bad Cannstatt in der einen und dem Stuttgarter Westen in der anderen Richtung. Die Naturtreue dieser Modellanlage im Maßstab 1:160 ist derart überwältigend, dass der SWR ihr mehrere Sendebeiträge widmete, Presse und Zeitschriften ausführlich berichteten und die Anlage 2017 von der Tochter des Modellbauers nach Herrenberg verkauft wurde, wo sie heute öffentlich besichtigt werden kann. Ein zentraler Bestandteil der Anlage blieb jedoch im Zwischengeschoss zurück: eine im Maßstab 1:1 gefertigte Replik des Arbeitsplatzes von Wolfgang Frey zur Steuerung der riesigen Modellanlage nach dem Vorbild des Hauptstellwerks des Stuttgarter Bahnhofs. Begleitbüro SOUP hat ihrem Entstehungsort den Namen Festung der Einsamkeit gegeben und dort eine künstlerische Auseinandersetzung mit den Gründen und Abgründen dieses Paralleluniversums angestoßen.

Wir sehen die Modellwelt des Wolfgang Frey als Nachbildung der Stadt Stuttgart in engem Zusammenhang zur Scheinanlage Brasilien . Die Frage, was man von Stuttgart alles weglassen kann, oder wie man aus Stuttgart eine sich zum Verwechseln ähnliche Stadt macht, ist vor dem Hintergrund aktueller städtebaulicher Entwicklungen längst zu einer politischen Frage geworden.

#01

6. Juli 2021

Aus der Reihe »Der verstrahlte Hügel«: Sirop de muguri de brad, Venus de Piatra N. (Sandsteinvenus) #01

Ein Beitrag von Atelier Ameisenberg / Werkstatthaus

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© Atelier Ameisenberg

© Atelier Ameisenberg

© Atelier Ameisenberg

© Atelier Ameisenberg

Ein Wald in den Karpaten, östlich von Siebenbürgen, ein Mischwald, dicht bewachsen mit zahlreichen Buchen. Wir waren maximal viermal dabei, vermutlich immer im Frühjahr, vermutlich deshalb, weil uns die Wintermonate manchmal unendlich lang vorkamen und ich das Gefühl hatte, es sei Sommer als wir dort hingewandert sind.
Der erste Teil des Weges war immer der gleiche, es ging über das Wasserwerk an der Bistritza, die im Rodna-Gebirge ihren Ursprung hat. Die Überquerung des Wasserwerkes habe ich als Abenteuer und Herausforderung empfunden, da es sehr laut, tief und gefährlich war. Wir konnten das Wasser unter unseren Füßen sehen. Vergleichbar mit Kämpfen gegen Monster, die wir auch auf dem Weg dorthin nachspielten, das Wasser war ein Drachen, der kein Feuer aber Wasser spuckte, was für uns aber viel gefährlicher als die Kraft des Feuers war. Wasser reißt alles mit sich, auch ganze Ortschaften mit ihren Häusern. Das Feuer konnte man dagegen löschen. Im Gegensatz dazu waren Überschwemmungen häufig nicht zu bekämpfen, nicht in diesem Teil der Welt.
Um die Tannenspitzen zu finden, sind wir Stunden gelaufen. Mit unseren kurzen Beinen schien es zeitlos lang, daher kamen wir uns vor wie die Zwerge aus Schneewittchen.
Angekommen an diesem Ort, weit weg von Straßen, Menschen, Tieren, Flüssen und Seen, nur nah am Himmel, fingen wir an die Spitzen zu pflücken. Ab und an versteckten wir uns, da wir Bärenkot riechen konnten. Nicht nur vor Bären sollte man sich in Acht nehmen, auch größere Wassermengen sind manches Mal zu Tal gestürzt. Einen solchen Zwischenfall gab es einmal bei einer archäologischen Grabung bei Piatra Neamt. Die riesigen Überschwemmungen, die das wissenschaftliche Team zur Unterbrechung ihrer Grabungen zwang, können im Nachhinein als günstige Fügung bezeichnet werden, brachten sie doch eine der ältesten Sandsteinfiguren ans Licht, benannt nach dem Ort, wo sie gefunden wurde, die Venus von Piatra Neamt. Ihr Alter wird auf ca. 17.000 Jahre geschätzt. Obwohl im Ort ein archäologisches Museum existierte, wurde die Skulptur 368 km entfernt, in den Süden des Landes gebracht.

1. Mai 2021

Willkommen im digitalen Skizzenbuch

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48.7657713, 9.1633892 © Sophie Bergemann

48.7657713, 9.1633892 © Sophie Bergemann

CURRENT widmet sich in seiner ersten Ausgabe dem Porösen (in) der Stadt und benennt dabei potenzielle Lücken in der Planung sowie Lücken im kollektiven Bewusstsein. Dieser Blog begleitet die Ideen, Gedanken und Skizzen aller Beteiligten und setzt sich mit Bedeutungen, Interpretationen und Assoziationen hinter dem Konzept der Porosität auseinander.

Städte sind in Bewegung. Sie verändern sich immerzu. Straßenzüge wandeln ihr Gesicht, entstehen an einer Stelle neu und werden an nächster schon wieder abgerissen. Das Urbane – Plätze, Straßen und Häuser werden intensiv gebraucht, belebt, verhandelt. Sie sind die Container unseres Alltags. Die Behauptung einer vollendeten oder gar fertigen Stadt kann sich niemals erfüllen.

CURRENT nutzt die Stadt Stuttgart als Modell zur Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Hier generieren großangelegte Bauprojekte Zukunftsprojektionen, versprechen Ideale und Vollendung. Lücken, Brachen, Leerstellen, das Ungeplante, Brüchige, Provisorische oder gar Ruinöse werden als Hindernisse solcher Mythen wahrgenommen, denn sie implizieren das Unfertige. Krisen erschüttern den einst geradlinig empfundenen Plan. Verunsicherung schafft Eventualitäten, die einen konstruktiven Umgang mit Unplanbarkeit erfordern und mehr denn je Zusammenhalt verlangen.

Kunst hat das Potenzial eine Lücke zu bilden, mit der neue und kritische Wahrnehmungsweisen des Vorhandenen, Alltäglichen und Selbstverständlichen erst ermöglicht werden. Die Kunst bringt gezielt neue Elemente in den Raum, indem sie sich mit ihm verbindet oder einen Konflikt hervorruft – in der Reflektion über das Alltägliche. Die Distanz zum Konkreten – das Imaginäre als Lücke – braucht es in Planungs- und Entwicklungsvorhaben von Stadt.

Dieser Blog ist das digitale Skizzenbuch, das Interpretationen und Assoziationen der beteiligten Künstler:innen und Partner:innenveröffentlicht und theoretischen, spekulativen oder wissenschaftlichen Aspekten hinter der Idee bzw. dem Konzept der „Porosität“ Raum gibt.

Das Urbane als porös zu begreifen, heißt auch, sich produktiv auf Unplanbarkeiten und Durchlässigkeiten einzulassen – auf die immerzu unfertige Stadt.